Hoch fliegen diese Hubschrauber, die silbernen kleinen Flugzeuge vielleicht noch höher – die sind so klein, es dünkt einen ganz seltsam, dass darin Menschen sind. Aber auf dieser Linde, was ist das schon für eine Höhe? Wäre er jünger, er würde mit einem Satz hinunterspringen, aber jetzt gehorchen ihm seine alten Knochen nicht. Ach, der Wind, er bläst am Boden entlang und höher, in kleinen Wirbeln. Fast wie bei der Landung des Hubschraubers. Der Wind hüllt alle in ein blaues Frühlingsgewand, so etwas wie Nebel oder Hitzedunst. Alles vibriert und rotiert, und durch dieses Windesblau sieht er unten Prancisius’ Sohn lächeln und Malenija herumrennen. Wozu durch die Gegend laufen? Wozu die Aufregung – der Alte geht nun in sich, ruht sich ein wenig aus und wird schon irgendwie aus dieser Lebenssituation, aus der überraschenden Lage herausfinden, die mehr auf dem Alter als auf Zufall beruht. Nur keine Gaffer, bitte. Der Daniokas soll schneller nach Hause gehen. Was steht er denn überhaupt da? Mit wem unterhält er sich? Mit einem unbekannten jungen Mann im karierten Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln. Vielleicht hatte er ihn auch schon gesehen, wer kann sich schon an alle erinnern: Die Kinder wachsen heran, werden zu Männern, beenden die Schule, kehren aus der Armee heim, wie sollte man sie auch alle kennen? Und dann sind da auch noch die vielen wer weiß woher Zugezogenen, früher musste man nicht einmal die Tür abschließen, aber man versuche das heute mal. Jetzt kann man den Menschen nicht mehr trauen, die haben doch alle ein wenig einen an der Birne, laufen alle dem Geld hinterher, jeder versucht jeden übers Ohr zu hauen. Danius und der Unbekannte lachen. Und die Kinder sitzen im Gras. Auch sie lachen. Worüber lachen sie wohl? Wahrscheinlich über ihn, den alten Laurinavičius, dass er wie ein Storch in seinem Nest hoch oben auf dem Baum sitzt. Es war dumm gewesen, die Klettereisen hinunterzuwerfen, aber die stören nur im Lindengeäst, die würden ihm jetzt nicht helfen, wie sollte er die auch hier oben festbinden, wie mit den Klettereisen aus dem Geäst herauskommen? Da sitzt er nun, der Laurinavičius, hoch oben, sieht sich um und fragt sich, wozu er überhaupt auf den Baum gestiegen ist. So ist nun einmal sein Charakter, er kennt ihn ja, lernt aber nie daraus, vergisst stets etwas mitzubedenken, bald das Alter, bald die Kräfte. Aber was wäre das auch für ein Leben, wenn man alles in Erwägung zöge und sich vor allem und jedem behütete, nur dasäße und Tee tränke und nichts unternähme. Da wäre man ja tot. Er hätte nur noch eine Wahl: sich auf die Bahre zu legen und den Pfarrer zu rufen. So sah Laurinavičius auch heute Mittag, als er sich so wegen seines getigerten Katers aufregte, zum Fenster hinaus, lief im Hof herum (der verdammte Kater ist bis jetzt nicht wieder aufgetaucht), denn er konnte nicht einfach nichts tun und dasitzen. Und auf dem Hof der Nachbarn waren weder Bäume zum Zersägen noch zersägte zu sehen. Alle hatten schon zu Beginn des Frühlings für die Wärme im Winter gesorgt. Man muss Laurinavičius nicht darum bitten, seine Säge mit den zwei Griffen in die Hand zu nehmen, für die Nachbarn sägt er gratis und franko Brennholz, einfach so, nur, um nicht Däumchen drehen zu müssen. Wenn er nicht wäre, würde der eine oder andere Faulpelz vielleicht die Stämme aus dem Wald ein halbes Jahr faulen lassen, jetzt aber kommt der Alte und zerschnippelt sie mit seiner Säge. Langsam, ganz langsam schmilzt der Haufen dahin. Der Holzbesitzer hält es nicht mehr aus und legt selbst Hand an, nicht immer ist er zufrieden, aber man kann doch keinen alten Mann anschreien. Oder dann sieht Laurinavičius jemanden beim Holzspalten. Dann geht er hin und erzählt ihm, wie man das Holz richtig und gut spaltet und dabei auch noch möglichst wenig Kraft braucht. Er muss lachen, wenn er sieht, wie die Jungen mit der Axt weit ausholen und zuschlagen, doch der Klotz will einfach nicht in zwei Teile zerspringen – wahrscheinlich sind ihre Kniehöhlen schon ganz verschwitzt, aber der Klotz ist noch immer nicht gespalten. Man braucht doch für alles Grips und nicht nur Muskeln – ziele genau auf die Mitte, ins Zentrum des Marks. Er weiß genau, was er rät: Stets von oben, nicht vom dickeren Teil spalten, und wenn jemand ein zu dickes Scheit auf den Haufen werfen will, weist er ihn zurecht – es braucht doch einen Aufpasser, heute ist es vielen völlig schnuppe, wie sie das Holz spalten, ob das Scheit gut brennt oder nicht, sie denken nicht darüber nach, es kümmert sie nicht. Der eine oder andere wird gar böse, aber Laurinavičius ist das ziemlich egal – er brachte ihnen nichts Schlimmes bei, gewöhnte sie nicht an den Schnaps, nur ans sorgfältige Arbeiten, damit alles schön und gut herauskommt. Ekelhaft, wenn nach getaner Arbeit eine Unordnung zurückbleibt. Vielleicht sagt dann einer, er komme gerade von der Arbeit, sei müde, erledige das am nächsten Tag. Das hat der Alte noch nie begriffen: Wie kann man etwas auf morgen verschieben, wo man doch nicht wissen kann, ob man morgen auch aufwachen wird? So auch heute wieder. Als er die Gegend absuchte und darauf wartete, dass sein Kater zurückkehren würde, zog aus irgendeinem Grund eine Linde, die ganz nah bei der Straße emporragte, seinen Blick auf sich. Die unteren Äste wuchsen so krumm und unordentlich, und auch der Wipfel war nichts Halbes und nichts Ganzes und erreichte schon fast die Stromleitung. Laurinavičius hatte die am falschen Ort gepflanzte Linde, direkt an der Stromleitung, schon lange bemerkt, aber heute entschied er, dass er Ewigkeiten auf die Elektriker warten könne – er hatte es doch dem Vincas gesagt, und was war passiert? Nichts. Und was, wenn die Leitung kaputtgeht, wenn es einen Kurzschluss gibt, wenn die Kabel bei Sturm und Regen wild herumtanzen und Funken sprühen? Dann würden sie alle ohne Strom dasitzen und sagen: Da war nichts zu machen, man kann doch nicht alles voraussehen, der Strom ist doch Technik. Da zurrte der Alte seine Klettereisen fest, packte eine kleine Säge und stieg auf den Baum. Auf dem Weg nach oben beschnitt er die unteren Äste, dann kappte er die Spitze der Linde. Den ganzen Wipfel samt den Ästen, die auf den Kabeln lagen. Im Ast- und Blätterdickicht kam er mit den Klettereisen nur schwer voran und so warf er sie zur Erde. Und jetzt sitzt er auf dem Baum und kommt nicht mehr runter. Unten läuft Malenija hin und her und ruft ununterbrochen „Jesses Maria, Jesses Maria“. Man soll doch die Namen der Heiligen nicht so oft in den Mund nehmen. Das will er sagen, er möchte mit ihr schimpfen, nur kann er jetzt nicht laut rufen – eine Menschenmenge hat sich unten versammelt. Sieh mal einer an, der Laurinavičius ist zum Zirkusartisten geworden. Er ist schließlich nicht einfach so hinaufgeklettert – er hat Erfahrung. Vor ein paar Jahren hat er doch bei der Branienė eine Esche gefällt. Das hat er, niemand anders wagte das, denn die Esche wuchs ganz nahe bei der, man könnte gar sagen, fast in der Scheune, denn das Strohdach umarmte den Stamm geradezu. Die Esche wuchs und wuchs, war schon groß und breit, aber dann geschah irgendetwas und sie vertrocknete. Vielleicht eine Krankheit, vielleicht die Kälte, oder jemand hatte sie mit Säure begossen, wer weiß das schon, aber der gigantische Baum vertrocknete und ragte jahrelang wie ein Skelett zum Himmel. Die Rinde schälte sich, die Äste hatten sich über dem Scheunendach nach allen Seiten ausgebreitet, und was am schlimmsten war, über Strom- und Telefonkabel: Genau an dieser Stelle befand sich nämlich ein Schnittpunkt mehrerer Linien oder etwas in der Art, denn von allen Seiten führten Kabel dorthin. Da packte der Alte dann wie jetzt seine Klettereisen (seit damals besaß er sie), stieg, so hoch er konnte, hinauf und ließ vorsichtig erst einen Ast herunterfallen, dann den zweiten, dann den dritten. Nach und nach zersägte er die ganze Esche, vom Wipfel bis zum Boden, wobei er stets darauf achtete, dass nichts auf die Kabel fiele und er dem Schilfdach nicht schadete. Das ganze Städtchen schaute damals zu und nickte zustimmend. Was nickt ihr da? Könnt ihr denn keinen Baum entfernen? Der alte Laurinavičius, ja, der kann das. Der Mensch kann alles, wenn er nur den Kopf gebraucht, wie vorgesehen, und hartnäckig genug ist. Damals lachte Laurinavičius zufrieden, jetzt aber lachen sie über ihn. Über wen denn sonst? Vielleicht lachen sie ja auch gar nicht und es ist nur der Wind, der in ihren Gesichtern spielt, vielleicht kitzelt ja die Natur, ohne dabei zu erröten, all diese Menschen, Nachbarn und Freunde und auch Feinde.
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