»Es soll doch noch einen Zug geben«, sagte Thomas verwundert. »Ich bin mir sicher, dass ich gehört habe, wie vorhin jemand im Café davon sprach.«
Miranda fächelte sich Luft zu. »Wann?«
»Ich bin mir nicht sicher. Gegen Mitternacht, denke ich. Aber der Bahnhofsvorsteher …«
»Und was ist, wenn die Armee vorher eintrifft?«
Thomas überlegte sich gerade eine Antwort, als irgendein Tier einen unheimlichen Schrei im aufsteigenden Dunst in den Weizenfeldern jenseits des Bahnhofs von sich gab.
»Was um Himmels willen war das?« Miranda versuchte einen Blick zu erhaschen.
»Hat sich angehört wie ein Schwein. Ist wahrscheinlich in eine Falle geraten.« Thomas faltete seine Karte auseinander und folgte der Bahnlinie. »Hier sind wir. Chelmsk – Snerinska – Schlopelo – Blankenberg – Zoribskia, nur diese Haltepunkte, dann nichts. Das ergibt absolut keinen Sinn.« Er drehte die Karte um, um sie seiner Frau zu zeigen. Die Stelle, an der sich die Endstation befand, war abgerieben worden, so als ob sie nicht länger existierte. »Wir sind in dieses Land gekommen. Es muss doch auch einen Weg aus ihm heraus geben.«
Miranda war verzweifelt. »Das ist nicht länger neutrales Gebiet, Thomas. Sie schließen die Grenzen.«
»Wir müssen schneller sein als die Armee.« Thomas schirmte seine Augen gegen die tief stehende Sonne ab, während er nach Anzeichen für Leben suchte. Es gab nichts außer den endlosen grünen und gelben Feldern.
»Und wenn sie hier eintreffen? Vielleicht werden wir erschossen.«
»Dann müssen wir den letzten Zug nehmen.«
»Welchen Zug? Es steht keiner mehr auf dem Fahrplan.«
Ihr Ehemann streckte sein Kinn hervor. »Wir dürfen den Glauben nicht verlieren, Miranda.«
Thomas berührte das Kreuz an seinem Hals, und nicht zum ersten Mal bereute Miranda, dass sie einen Pfarrer vom Land geheiratet hatte. Er sah nach seiner Taschenuhr und blickte sorgenvoll die Schienen entlang.
»Kannst du irgendetwas sehen?«, fragte sie.
Thomas litt unter Sehschwäche, aber er konnte einen fernen Schimmer ausmachen, der sich im dunklen Wald bewegte.
»Ist das der Zug?«
»Nein«, antwortete Thomas bedrückt. »Ich denke, es ist die Armee.«
Die Büsche am Ende des Bahnsteigs raschelten plötzlich und teilten sich. Aus ihnen kam ein schmutziger Junge hervor, der auf die Pflastersteine trat. Seine Kleidung war zerlumpt und er trug keine Schuhe. Seine stechenden blauen Augen zeigten Hinweise auf Wahnsinn.
Thomas wollte sich von einem Kind nicht einschüchtern lassen. Er schritt auf den Bengel zu und sprach ihn an.
»Kleiner Junge, kannst du mich verstehen?«
Der Junge starrte ihn an, dann zog er etwas Lebendiges aus seinen ungekämmten Haaren und nahm es in den Mund. »Wir sprechen alle Englisch. Wir hatten einmal einen Englischlehrer hier. Wir mochten unseren Lehrer sehr.«
»Prima. Wann geht der nächste Zug?«
»Kein Zug.« Der Junge kratzte sich am Kopf, auf der Suche nach weiteren Läusen.
»Ich dachte, es soll einer um Mitternacht kommen.«
»Etwas kommt um Mitternacht.«
»Was willst du damit sagen?«
»Etwas, das wie ein Zug aussieht.« Der Junge untersuchte ein neues, sich windendes Insekt, das er zwischen seinen Fingern hielt. Dann verspeiste er es.
»Wo fährt er hin?«
»Darfst ihn nicht ansehen. Wende dich ab, wenn du hörst, dass die Schienen singen. Halte die Ohren zu, wenn du die Pfeife hörst. Um Mitternacht musst du rennen. Dich verstecken.« Der Junge drehte sich weg, um zu gehen.
»Warte …«
Aber es war zu spät. Der Junge war bereits in dem dunkler werdenden Waldgebiet verschwunden.
»Was hat er gesagt?«, wollte Miranda wissen.
Thomas konnte die Sorge in ihrer Stimme hören. »Nichts, das einen Sinn ergibt«, teilte er ihr mit.
»Was sollen wir tun?«
»Was bleibt uns übrig?«, sagte Thomas. »Wir warten.«
Nicholas blickte durch das Fenster in das Gasthaus und sah, dass Ärger drohte. Josef und Ivan standen bei Isabellas Vater. Die Männer gestikulierten wild.
»Warte hier«, sagte er zu Isabella, bevor er so nahe, wie er es wagte, zum Fenster ging und lauschte.
»Wacht endlich auf, ihr beiden«, sagte der Wirt gerade. »Ihr müsst den Engländer aufhalten. Und meine Tochter finden. Ivan, reiß dich zusammen und hilf Josef. Er wird seine Frau verlieren.«
Nicholas beobachtete, wie Ivan und Josef mit plötzlicher Entschlossenheit den Schankraum verließen.
»Komm hier lang«, flüsterte Isabella. Sie hielt eine schmale Holztür an der Seite des Gasthauses auf. Er schlüpfte hinein und folgte Isabella zur Treppe.
»Geh in dein Zimmer und pack deinen Koffer«, sagte Nicholas. »Ich brauch ein paar Sachen. Mach so schnell du kannst. Wir treffen uns draußen.«
Isabella rannte leichtfüßig die Treppe hoch, eilte in ihr Zimmer und stopfte ein paar unerlässliche Dinge in die alte Reisetasche ihrer Mutter. Als sie aus dem Fenster blickte, sah sie, wie Ivan und Josef auf den Hof des Gasthofes hinausstürzten. Isabella blies ihre Kerze aus und ging die Treppe hinab durch die Hintertür auf die Gasse neben dem Gebäude.
Vor seinem Zimmer erstarrte Nicholas zu Eis, als die Dielenbretter knarrten. Er lauschte angestrengt, aber als von unten nichts zu hören war, begab er sich in das Zimmer. Leise und schnell, mit einer Geschicktheit, die reichlich Erfahrung verriet, schnappte er sich seinen Koffer und das zusammengebundene Bündel Geldscheine, das er unter der Matratze versteckt hatte. Umständlich seitwärts gehend begab er sich die Treppe hinab.
Am Fuße der Treppe warteten der Wirt und seine Männer auf ihn. Die Gastwirte Osteuropas hatten ein scharfes Auge für Männer, die sich heimlich aus dem Staub machen wollten. »Wohin willst du denn, mein Freund?«, fragte Isabellas Vater, während er mit einem dicken Stock auf seine Handfläche schlug.
Isabella musste hilflos durch das Fenster mit ansehen, wie Nicholas von den Trinkern zurück in den Schankraum gezerrt und gezwungen wurde, sich auf einem Stuhl vor dem Kaminfeuer niederzulassen. Er war von wütenden Einheimischen umgeben, die ihn nicht für einen Moment aus den Augen ließen.
Nicholas überdachte seine Möglichkeiten. Um die Wahrheit zu sagen, er hatte schon in heikleren Situationen gesteckt. Zum Beispiel damals in Valencia, die Sache mit der Tochter des Bürgermeisters, als sie ihm fast die Finger abgeschnitten hätten. Aber die Tür war zu weit weg, um blitzartig die Flucht antreten zu können. Die Männer in der Schenke würden ihm niemals gestatten zu verschwinden.
»Jetzt ist keine Zeit für so etwas«, warnte er. Er versuchte sich zu erheben, wurde aber auf den Stuhl zurückgedrückt. »Der Feind ist bereits in der Stadt.«
»Wessen Feind?«, fragte der Wirt. »Nicht unserer. Diese Stadt wurde durch die Eisenbahn gebaut. Unsere Familien wurden durch Eisen und Feuer groß. Unsere Männer sind Ingenieure und Metallarbeiter, und unsere Frauen werden Ehefrauen und Mütter. Sie sind keine billige Unterhaltung für gelangweilte feine Herren.« Er hatte Rotwein in einem Eisenbecher im offenen Kaminfeuer erhitzt. Der Wein kochte.
»Und ihr würdet zulassen, dass Isabella vergewaltigt wird, um euch selbst zu retten.«
»Zeigen wir dem Fremden unsere Gastfreundlichkeit. Schenkt ihm ein, Jungs.« Zwei der am kräftigsten aussehenden Burschen in der Gaststube packten Nicholas und zwangen ihn dazu, den Mund zu öffnen. Der eiserne Weinbecher im Feuer war rotglühend, in ihm brodelte es wild. Der Wirt zog einen dreibeinigen Hocker heran und setzte sich vor Nicholas hin. Vielleicht , schoss es Nicholas durch den Kopf, ist die Situation doch schlimmer als in Valencia. Er wand sich und drehte den Kopf zur Seite.
Draußen beobachtete Isabella das Geschehen entsetzt, unfähig einzugreifen. Sie war schockiert von der Grausamkeit der Männer, die sie ihr ganzes Leben gekannt hatte, Männer, die sie zumindest geglaubt hatte zu kennen. Was sie mit ansehen musste, festigte nur ihre Entschlossenheit zu gehen. Aber es gab nichts, was sie nun tun konnte, um Nicholas zu retten.
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