1 ...6 7 8 10 11 12 ...15 »Das ist unmöglich.« Sie blickte verzweifelt zurück zu den schwankenden und grölenden Einheimischen.
»Isabella, der Krieg wird diese Stadt vernichten.«
»Ich weiß nichts vom Krieg.«
»Sie werden ihn bald genug kennenlernen. Wann haben Sie Feierabend?«
»Ich habe niemals Feierabend. Vater schließt nie, bevor nicht der letzte Mann nach Hause zu seiner Frau gegangen ist. Und die meisten von ihnen würden niemals heimgehen, wenn es diese Möglichkeit gäbe.«
Nicholas blickte die Einheimischen an, die an ihren Tischen herumlümmelten, und stellte sich ihre Gespräche vor, die vermutlich selten über Diskussionen von Kompost und den Vergleich von landwirtschaftlichen Gerätschaften hinausgingen. »Dann treffen Sie sich mit mir«, schlug er vor.
Isabella warf einen weiteren Blick auf die hartgesottenen Trinker in der Gaststube. Einer stampfte gerade den getrockneten Schlamm von seinen Stiefeln, um damit die Katze zu bewerfen.
»Isabella, Sie haben nichts zu verlieren und alles zu gewinnen. Welches ist das beste Restaurant in der Stadt?«
»Es gibt nur eines. Es heißt Zum Schwein .«
» Zum Schwein . Gut, dann treffen wir uns dort.«
Sie wandte sich wieder dem Tresen zu, ihre Gedanken waren in Aufruhr. »Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird, bis ich kommen kann.«
»Das ist egal. Ich werde warten.«
Auf dem Weg zum Restaurant ging Nicholas durch die verlassenen Straßen. Die Sonne war unvermittelt untergegangen, ohne den Himmel einzufärben, und von den Blechlaternen, die über der Straße hingen, fielen Kegel kalten Lichts herab. Unterwegs begegnete er einer unglaublich runzeligen alten Frau, die ein widerspenstiges, quiekendes Schwein trug. Ein betrunkener Bauer wurde aus einem Hauseingang geschleudert und fiel vor ihm in die Gosse, wo er sich heftig und ausgiebig übergab. Nicholas’ Unmut wuchs. Isabella verdient ein besseres Leben als das hier , dachte er wütend. Sie gehört an meine Seite in London. Wie gut wir zusammen aussehen würden, wenn wir das Café Royal betreten.
Er stand vor den Fenstern des Restaurants. Es war leer, mit Ausnahme eines dösenden Kellners, der braune Suppenflecken auf seiner Weste hatte und über der Theke zusammengesackt war.
Auf jedem der unbedeckten Holztische befand sich ein Arrangement aus getrocknetem Weizen, das um einen einzelnen, von Fliegeneiern und Maden befallenen Schweinefuß angeordnet war. Der Gedanke, hier zu speisen, ekelte ihn an. Er atmete tief durch und trat ein.
Es dauerte eine Minute, bis der Kellner sich aufraffen konnte. Vom unerwarteten Erscheinen eines Gastes überrascht, wischte er den Tisch ab und legte eine schmutzige, in Leder gebundene Speisekarte vor Nicholas. Es gab keine anderen Gäste im Restaurant. Nicholas studierte die Speisen mit Widerwillen und deutete auf ein unaussprechliches Gericht.
»Was ist das?«
»Das ist Schwein«, antwortete der Kellner.
»Und das hier?«
»Das ist auch Schwein.«
Seufzend starrte Nicholas aus dem Fenster und sah nach seiner Uhr.
***
»Was wollte er?«, fragte der Wirt.
»Ich hab’s dir gesagt, Vater. Er ist ein englischer Herr.«
»So etwas gibt es nicht. Ich kenne diese Herren. Sie bringen nur Probleme.«
»Er war nur höflich.«
»Höflich!« Isabellas Vater warf ihr einen angewiderten Blick zu. Er berührte sanft den Arm seiner Tochter, aber sie wich zurück. »Ich will nur das Beste für dich. Sei glücklich mit dem, was du hast. Bitte, kümmere dich um deinen zukünftigen Ehemann.«
Isabella blickte zu Josef hinüber, der mit seinen Kumpanen am Kamin saß, und zögerte. Sie liebte ihren Vater und bemühte sich, ihm zu gehorchen, aber manchmal kam ihr das Leben erdrückend und vorhersehbar vor.
Josef war ein gut aussehender Mann aus einer anständigen Arbeiterfamilie. Er war nicht gebildet, neigte aber von seiner Natur her zur Gutmütigkeit. Es war vor längerer Zeit beschlossen worden, dass sie in der Peterskirche heiraten würden. Zweifellos würde sie das Erste seiner Kinder im nächsten Frühjahr zur Welt bringen. Es würden vier werden, meinte der Pfarrer: drei starke Jungs und ein Mädchen, um den Haushalt zu führen. Dieses Schema, vorhersehbar wie die vier Jahreszeiten, war eine Quelle der Freude im Leben der anderen Stadtbewohnerinnen, aber auch die Wurzel von Isabellas eigener Unzufriedenheit.
Nachdem sie ein Tablett mit Bier für Josef und seine ungehobelten Freunde – Ivan und Karek – gefüllt hatte, stellte sie die Krüge vor den Mann, den sie heiraten sollte. Sie konnte sehen, dass Ivan wieder versuchte, ihn betrunken zu machen. Eifersüchtig auf Josefs Erfolg bei ihr, versuchte er andauernd, seinen Freund in ein schlechtes Licht zu rücken.
»Die Koalitionsarmee wird den Bahnhof zerstören«, sagte Josef mürrisch.
»Unsere Kameraden kämpfen an ihrer Seite«, erinnerte Ivan ihn. »Wir bleiben als ihre Verbündeten oder rennen als ihre Feinde davon.«
»Ich kann Isabella nicht hier zurücklassen, Ivan. Schau sie dir an. Sie würden sie nicht am Leben lassen.«
»Oh ja, du hast dir einen kleinen Hitzkopf angelacht«, sagte Ivan laut genug, damit sie es auch hören konnte.
»Ich liebe sie«, gab Josef zu und nahm einen tiefen Schluck.
»Alle Männer der Stadt wollen sie. Und hatten sie vermutlich schon.« Ivan blickte verschlagen in Isabellas Augen.
»Alle außer dir, Ivan«, lachte Karek, der immer Probleme hatte, den Gesprächen zu folgen. Ivan holte aus und traf Karek am Ohr.
»Warum hast du das getan?« Karek hielt sein Ohr wie ein gescholtenes Kind.
»Isabella hebt sich für mich auf«, versicherte Josef seinen Kumpanen.
»Diese alte Leier?«, spottete Ivan. »Glaubst du wirklich daran? Hast du gesehen, wie sie den feinen Herrn aus der Stadt angeguckt hat?« Er schlug seinem Freund auf die Schulter. Isabella stand ein paar Schritte entfernt und lauschte.
»Heirate sie schnell und mach ihr ein Dutzend Babys«, riet Ivan. »Dann wird niemand einen zweiten Blick auf sie werfen. Vor allem nicht, wenn ihr die Brüste bis zum Bauchnabel herunterhängen.« Er schlürfte sein Bier und brüllte vor Lachen.
»Sie wird eine gute Mutter sein«, verkündete Josef.
»Vielleicht«, sagte Ivan. »Aber die Armee wird bald hier eintreffen. Und bei einem Mädchen wie ihr werden die Soldaten zu Tieren.«
»Ich werde sie schützen.«
»Das wird nicht ausreichen. Du musst sie entjungfern«, antwortete Ivan. »Sag ihnen, dass sie eine Krankheit hat. Verunstalte ihr Gesicht. Sorge dafür, dass die Männer sie meiden. Du musst etwas tun, damit man sie nicht zweimal ansieht. Hier, nimm das. Und tue es bald.« Er zog ein gefährlich aussehendes Rasiermesser aus seinem Ledergürtel.
Isabellas Zweifel wurden in diesem Moment übermächtig. Sie überließ die nassen Biergläser ihrem Schicksal und eilte hinter den Schanktisch, wo sie ihre Schürze ablegte.
»Warte, Isabella«, rief Josef, der wusste, dass Ivan diesmal zu weit gegangen war.
»Das Fass muss gewechselt werden«, sagte ihr Vater.
Sie blickte ihm trotzig in die Augen. »Ich werde nur ein paar Minuten weg sein.« Sie ging zur Hintertür, musste aber feststellen, dass sie abgesperrt war. Die Schlüssel befanden sich in der Lederschürze ihres Vaters. Sie ging zur Theke zurück, schlich sich hinter ihren Vater und zog vorsichtig den Schlüsselbund aus seiner Tasche. Dann rannte sie zur Tür.
Isabella trug keine Jacke, wollte aber auch nicht riskieren, sich eine aus ihrem Zimmer zu holen. Sie flitzte in den Hof, wo sie abrupt stehenblieb, weil sie fürchtete, dass man ihr folgte. Sie drehte sich um und blickte durch das Fenster ins Innere der Schenke, wo Ivan und Karek gerade mit Josef anstießen. Sie hatten sie bereits vergessen.
Sie rannte zum Restaurant.
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