Von den Toren aus war es nicht mehr sehr weit. Caleb führte sie schon bald an, denn er war der Größte von ihnen und ihm fiel es auch am leichtesten, die geheime Leiter hervorzuziehen und herunterzuklappen, die in den ersten Stock einer der Ruinen führte. Die Fenster und Türen des Erdgeschosses waren verrammelt und zugenagelt und auch die Leiter sollte eigentlich nicht dort sein. Sie hatten sie irgendwann hergebracht. Caleb reckte sich ein Stück, angelte mit der rechten Hand nach dem Fuß der Leiter, dann zog er sie ein gutes Stück über die Kante, bevor sie fast von selbst nach unten klappte. Wenn man nicht aufpasste, konnte man sie leicht auf den Kopf bekommen. Doch inzwischen waren sie geübt darin und so landete die Leiter sicher auf dem Boden. Zuerst erklommen Caleb und Annie die Streben, dann folgte Elias den beiden und schließlich zogen sie die Leiter wieder ins Innere des Gebäudes. Es war offiziell abgesperrt und auf eine Begegnung mit der Patrouille, die sich wunderte, wieso da eine Leiter an der Wand lehnte, verzichteten sie dankend.
Nachdem es jahrzehntelang oder möglicherweise sogar länger leergestanden hatte, gab es hier eigentlich nichts Besonderes zu sehen, aber die Ruine selbst war auch nicht der Grund dafür, dass es ihr liebster Platz geworden war. Einer nach dem anderen erklommen sie Stufe um Stufe, Stockwerk um Stockwerk, bis sie das Dach erreichten. Elias kannte den Ausblick, hatte ihn schon viele Male zuvor gesehen und dennoch verschlug es ihm noch immer den Atem. Um sie herum war kilometerweit nur die Ödnis der Stadt und ihrer zerklüfteten Ruinen, durchsetzt nur von dem Grün jener Pflanzen, die sich trotz der Trockenheit ihren Lebensraum zurückerobert hatten. Doch das wirklich Atemberaubende an diesem Ausblick waren nicht die Reste der einst blühenden Metropole, sondern der Horizont. Irgendwo dort war es wirklich grün, da war wahre Natur, wie sie in den Filmen, auf den Holos und in den Readern zu sehen war. Wenn sie hier oben standen, dann konnten sie die Beweise dafür sehen, dass sie wirklich so gewaltig war, wie sie es nur spärlich zwischen den Ruinen zeigte. Zugleich hatte der Anblick aber auch etwas Trauriges für Elias, denn er wusste, er würde das Grün niemals aus der Nähe sehen dürfen. Der Weg war zu weit, um ihn an einem halben Tag zu Fuß zu gehen. Ja selbst mit einem Fahrzeug konnte es knapp werden, wenn man denn überhaupt eines auftreiben konnte, das noch mit Benzin oder Diesel lief. Und dann musste man noch den Treibstoff beschaffen. Unmöglich. An guten Tagen, wenn die Luft klar war, wie sie es im Winter sein konnte, konnte man sogar die weißen Spitzen der Berge sehen. Elias kannte ihre Namen, er wusste von Bildern, wie sie aus der Nähe aussahen, aber das war nichts gegen die Erhabenheit, die sie selbst auf diese Entfernung ausstrahlten. Was waren Bilder und Aufzeichnungen schon gegen die echte, lebendige Natur? Er konnte es nur ahnen.
»Elias? Hallo?«
»Was?« Elias erwachte aus seiner Bewunderung wie aus einer Trance und bemerkte erst da, dass Annie ihm eine Flasche entgegenhielt.
»Ich hab dich gefragt, ob du auch was trinken willst.«
»Ähm, klar, danke.« Ungeschickt nahm er die Flasche entgegen. Sie war nicht wirklich kalt, aber zum Glück auch nicht warm. Mit einem geübten Handgriff öffnete er die Flasche am dazugehörigen Kasten, den sie hier hinaufgetragen hatten und den sie austauschten, wenn er leer wurde.
Sie saßen eine Weile schweigend da. Caleb hatte die Beine über den Rand des Daches geschwungen und ließ sie einfach baumeln. Etwas, das Elias nicht einmal beobachten konnte, ohne dass er schwitzige Finger bekam, denn dieses Dach war verdammt hoch.
Plötzlich hörten sie hinter sich etwas rumpeln. Elias war der Erste, der erschrocken herumfuhr, als etwas an der Tür kratzte und an der rostigen Klinke rüttelte. Unwillkürlich ging er auf Abstand, wich ein Stück zurück, bis er gegen Annie prallte, die zur Salzsäule erstarrt war. Wenn sie hier jemand erwischte, saßen sie wirklich, wirklich in der Tinte! Kurz überlegte Elias, ob es Sinn ergab, sich hinter dem Aufgang zu verstecken, aber die Idee verwarf er rasch wieder. Spätestens, wenn die Patrouille den Bierkasten entdeckte, würden sie auch auf der anderen Seite des Treppenhauses suchen.
»Annie? Annie, bist du hier?« Elias stieß geräuschvoll die Luft aus, die er in Anspannung angehalten hatte, und staunte nicht schlecht, als sich ein kleines Mädchen mit rotblonden Zöpfen und ein Junge im gleichen Alter durch den engen Türspalt quetschten. Hinter Elias seufzte auch Annie erleichtert auf, nur um die Luft kurz darauf scharf einzusaugen.
»Kannst du mir verraten, was du hier tust?«, fuhr sie ihre kleine Schwester an. »Wie kommt ihr überhaupt hier hoch?«
»Na so, wie du vermutlich auch.« Wenn die Kleine vom Tonfall ihrer Schwester eingeschüchtert war, zeigte sie es nicht.
»Ach ja? Und wie bist du Knirps an die Leiter gekommen?«
»Leiter?« Finja blinzelte irritiert. »Celan und ich gehen immer durch den Keller.«
»Keller?«, wiederholten Annie und Elias verdattert im Chor. Von einem Keller wussten sie nichts. Zumindest von keinem, der begehbar gewesen wäre.
»Ich bin nur hier hochgekommen, weil ich fragen wollte, ob Celan und ich ein bisschen im Park spielen dürfen?« Große Kinderaugen schauten bittend zu Annie hinauf, die schon zu einem Kopfschütteln ansetzen wollte, es sich dann aber doch anders überlegte.
»Ja, meinetwegen. Aber lauft nicht zu weit weg! Nicht, dass ihr am Ende nicht mehr zurückfindet oder euch jemand suchen kommen muss!« Ganz die große Schwester blickte Annie Finja streng an, während sie das sagte. Die Kleine nickte ernst, bevor sich ein freudiges Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete, sie die Hand ihres besten Freundes schnappte und die beiden davonstoben. Annie sah ihnen nach, wie sie sich wieder durch die Tür quetschten, und Elias konnte die Sorge in ihrem Gesicht deutlich erkennen. Annie mochte es nicht, wenn ihre Finja, oder ihre anderen kleinen Geschwister, allein draußen unterwegs waren, selbst am Tag, aber ihr war auch klar, dass sie sie nicht einsperren konnte.
»Na komm, sie ist doch schon groß«, versuchte Caleb, sie zu besänftigen, und Annie nickte abwesend.
»Ich weiß, aber für mich ist sie noch immer klein.«
»Es sind doch auch Wachpatrouillen unterwegs. Die werden schon merken, wenn sie an ihnen vorbeizuschlüpfen versucht«, warf Elias ein und schenkte Annie ein Lächeln.
»Ja, ihr habt ja recht.« Mit einem letzten Blick zu der Tür, die inzwischen wieder ins Schloss gefallen war, gab Annie sich einen sichtbaren Ruck und setzte sich betont ruhig auf den Kasten.
* Kapitel 2 *
Elias lag auf seinem Bett, starrte mit unbewegtem Blick an seine Zimmerdecke. Eine Woche war inzwischen vergangen und er hatte noch immer keine Rückmeldung zu seiner Bewerbung erhalten. Allmählich lagen seine Nerven blank und zugleich musste er sich an den Gedanken gewöhnen, eine wichtige – seine einzige – Chance einfach vertan zu haben. Hätte er sich nicht für das Labor, sondern für eine Stelle mit besseren Erfolgschancen beworben, so würde seine Zukunft nun rosiger aussehen. Stattdessen winkte ihm der Abgrund. Im wahrsten Sinne des Wortes. Die Schächte, die Mülltrennungsanlagen, die Kraftwerke, die Stollen … All diese Jobs, die niemand freiwillig tun wollte, befanden sich tief unten, weit entfernt von der Zentrale und der Stadt. Dort würde er sich den Rücken krumm schuften, nur noch selten die Sonne sehen. Wenn er sie denn überhaupt noch zu Gesicht bekam. Je nachdem, welche Stelle ihm zugeteilt würde, würde er in Schichten von bis zu drei Wochen arbeiten müssen. Manchmal sah Elias sie früh morgens an den Haltestellen der Magnetbahn stehen: Jene, die ihr Dasein in der Dunkelheit fristeten. Ausgemergelte Gestalten waren das. Blass, mit tiefliegenden, blutunterlaufenen Augen.
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