»Bis später!« Elias verabschiedete sich, nachdem er sein Müsli hinuntergeschlungen hatte. Sie antwortete mit den gleichen Worten und dann fiel die Wohnungstür bereits hinter ihm ins Schloss.
Er wohnte mit seiner Mutter im untersten Stockwerk seines Wohnblocks, was es ihm zumindest ersparte, diverse Treppen zu laufen, bis er auf der metallenen Plattform stand, auf der sich der Block neben zig anderen nahtlos in eine monotone Reihe fügte. Direkt zu seiner Linken führte eine Treppe ins zweite und dritte Stockwerk des Blocks, darüber lag schon die nächste Plattform. Dort musste er hin. Elias wandte sich nach links, ging an drei weiteren Blocks vorbei, die genau wie der aussahen, in dem er selbst wohnte, überquerte einen breiteren Gang und ließ vier weitere Blocks hinter sich. Dann bog er rechts ab, ließ die Nachbarreihe hinter sich, bis er den Rand der Plattform erreichte. Die Aussicht von hier in den hunderte Meter tiefen Schacht war eigentlich atemberaubend. Das Lichtermeer der zig Plattformen gegenüber schien endlos und die bunten Lichtblitze der Aufzüge und Magnetbahnen wirkten wie Fische darin. Früher hatte Elias oft hier gestanden und den Anblick genossen, doch inzwischen hatte das Alles seinen Reiz verloren. Für ihn zählte morgens, dass nur noch eine Blockreihe zwischen ihm und der Treppe lag, die zu den höher oder tiefer gelegenen Plattformen führte. Ohne jemanden anzurempeln, versuchte er, sein Tempo zu halten, denn er war spät dran und die Treppen kosteten ihn Zeit. Fünfzig Stufen, fünfzig verschissene Stufen lagen zwischen den einzelnen Ebenen und davon musste er jeden Morgen ganze drei Stück nach oben laufen. Erst ab da fuhr die Magnetbahn. Schon seit Jahren war ein Ausbau der Aufzüge nach unten geplant, aber bisher war nichts dergleichen geschehen; Elias lief die gefühlt endlosen Stufen noch immer zu Fuß.
Trotz der kühlen Luft erreichte er die Magnetbahn schweißgebadet. Elias packte den Gurt seiner Tasche fester, die ihm von der Schulter zu rutschen drohte, während er seinen rechten Arm hektisch unter das Lesegerät hielt. Das vertraute Piepsen ertönte, die kleine Schranke öffnete sich und er hetzte weiter zu seinem Gleis. Zu seinem Glück war die Bahn noch da. Mit einem Satz war er drin; im gleichen Moment schlossen sich die Türen hinter ihm zischend und die Bahn setzte sich in Bewegung. Schon nach kurzer Zeit beschleunigte sie so sehr, dass Elias sich eilig an einem der Haltegriffe festklammerte, um nicht umgeworfen zu werden. Dann wurde der Zug von einem düsteren Tunnel verschluckt.
Keine zwanzig Minuten später strömte Elias inmitten einer gewaltigen Menschenmasse auf den Bahnsteig der Zentrale. Nur der Name der Haltestelle verriet ihm, dass er sich nun woanders befand, ansonsten sah es fast aus wie zu Hause. Allerdings änderte sich dieser Eindruck schlagartig, als er auf den großen Platz trat. Hier war alles viel weitläufiger, großzügiger und bei Weitem nicht so eng bemessen wie bei seiner Haltestelle. Statt billiger Neonröhren erhellten Tageslichtlampen den Raum bis zur hohen, gewölbten Decke und statt kahler Betonwände fanden sich hier sogar einige Grünpflanzen. Sicherlich künstliche, aber es ließ die Umgebung direkt freundlicher wirken. Wolkenanimationen im Gewölbe, ein angenehmer Lufthauch, verursacht von der gigantischen Klimaanlage, und Springbrunnen in der Mitte des Platzes konnten ihn fast vergessen lassen, dass er sich tief unter der Erde befand. Menschen drängten sich dicht an dicht, das Stimmengewirr und die Schritte vieler tausend Füße waren fast ohrenbetäubend. Doch Elias war nach all den Jahren so daran gewöhnt, dass er es schon gar nicht mehr wahrnahm. Er verließ den Bahnhof durch den Südausgang, folgte dem Schild, das zum Zentrum wies, und bog nach links ab. Von hier fuhr eine andere Linie in den Verwaltungsbezirk, wo sich beinahe sämtliche Behörden und Ämter befanden. Diesmal war es eine kurze Fahrt und der Stadtteil, in dem er ausstieg, sah seiner eigenen Plattform wieder ein Stückchen ähnlicher. Ebene über Ebene, darauf eintönige Gebäude, alles in beton- oder stahlgrau. Zwar erhellten auch hier Tageslichtlampen die Gänge und Wege; der Prunk der Zentrale reichte dennoch nicht bis hierher.
Ein gigantischer Komplex erhob sich nun vor ihm, der insgesamt zwölf Ebenen umfasste. Die Gebäude auf jeder dieser Ebenen waren zwischen drei und sechs Stockwerke hoch. Die ID-Stelle lag auf der höchsten Ebene. Elias erreichte sie über einen der Hochgeschwindigkeitsaufzüge. Es ging so weit hinauf, dass einige der Räume sogar Tageslichtschächte besaßen. Wieso ausgerechnet eine Behörde Sonnenlicht benötigte, war ihm nicht klar, aber Elias genoss die Strahlen, die hereinfielen. Die flachen Stufen zum Haupteingang bezwang Elias mit wachsender Abneigung und betrat den schmucklosen Flur. Er schlängelte sich durch die Masse an wartenden Menschen zum Aufzug. Mit jedem Schritt wurde er langsamer, wollte am liebsten wieder nach Hause verschwinden.
Als sich die Aufzugtüren öffneten, standen in der Kabine Menschen dicht an dicht gedrängt. Ein wenig besorgt, ob der Aufzug das Gewicht aller tragen würde, zwängte sich Elias hinein. Die Luft war stickig und die Stimmung ungemütlich. Jeder war mit sich selbst beschäftigt. In nicht wenigen Gesichtern konnte Elias dieses gewisse Unbehagen lesen, das auch er empfand. Lautlos glitt die Aufzugtür zu, dann schoss der Aufzug nach oben. Elias warf noch einmal einen Blick auf die Mail, um auch ja im richtigen Stockwerk auszusteigen. Als er schließlich auf den nächsten Gang trat, war er froh, wieder frei atmen zu können. Doch dieses Gefühl hielt nicht lang. Die Vorstellung, was ihn gleich erwarten würde, lastete auf ihm und schnürte ihm die Kehle zu. In dieser Etage warteten vereinzelt Menschen vor den weißen Türen, umklammerten bang die Chips mit den Nummern, die ihnen die Reihenfolge vorgaben. Elias ging an ihnen vorbei, den Blick auf den dunklen Boden gerichtet, und war auf einmal froh, dass er einen Termin hatte. So würde er das hier zumindest so schnell wie möglich hinter sich bringen können. Zögerlich klopfte an der Tür, deren Nummer ihm mitgeteilt worden war. Geräuschlos glitt die Tür zur Seite auf.
»Guten Morgen.« Elias war noch nicht einmal eingetreten, da wurde er von der Sachbearbeiterin begrüßt, die hinter einem weißen Schreibtisch saß und mit starrem Blick auf ein Holo sah. Ihre Stimme klang freundlich, aber zugleich merkwürdig monoton und sie sah so unauffällig aus, dass es beinahe auffällig war: mausgraues Haar, zu einem Dutt gebunden, dunkler Hosenanzug. Über dem Herzen das Zeichen der Föderation. »Sie müssen Elias sein.« Elias zog es vor, nicht zu antworten. Stattdessen nickte er bloß stumm. Hinter ihm glitt die Tür wieder ins Schloss. Unauffällig sah er sich um. Vier weiße Wände – wenn man einmal die Tür außer Acht ließ – und eben jener Schreibtisch in der Mitte des Raumes.
»Bitte, setzen Sie sich doch.«
Elias tat, wie ihm geheißen.
»Also, Elias …« Ohne ein weiteres Wort der Begrüßung und auch ohne sich vorzustellen, scrollte die Frau durch ein Dokument auf einem Holo, bis sie gefunden hatte, was sie suchte. »… Sie haben sich nur auf eine einzige Stelle beworben und dann auch noch auf eine, die so hart umkämpft ist. Warum?«
»Ich …« Sollte er die Wahrheit sagen? Dass nur diese eine Stelle überhaupt für ihn infrage kam? Wenn er auch sonst nicht sonderlich viel Wert auf Schule gelegt hatte, so hatte er in den Naturwissenschaften alles gegeben. Er wollte unbedingt einen Platz im Institut.
»Nun, ich höre?«
Er entschied sich für die Wahrheit. »Ich kann mir außer dieser einen Sache nichts anderes vorstellen. Mein Vater hat auch in diesem Institut gearbeitet und sein Interesse muss auf mich abgefärbt haben.«
»Das ist zwar verständlich, aber Sie sollten sich im Klaren darüber sein, dass Ihre Chancen nicht gut sind. Sie haben lediglich einen mittleren Abschluss an einer mittelmäßigen Bildungsstätte absolviert. Ihre Noten waren nicht herausragend.«
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