Davon ausgehend beschäftigen sich die eng aufeinander bezogenen Kapitel drei und vier mit der Einschreibung des Namens Julius Barmat in die politische Kultur der Weimarer Republik im Kontext der sich seit 1925 entfaltenden Skandaldynamik. Diese Dynamik erklärt sich nicht nur durch die anstehende Reichspräsidentenwahl, die mit dem vorzeitigen Tod Friedrich Eberts vorgezogen werden musste, sondern mehr noch im Zusammenhang mit der Bildung von konservativen Bürgerblockregierungen in Preußen und im Reich. Dabei entbrannte ein erbitterter Kampf um die politische Moral, der sich mit denen des politischen Kapitalismus und seinen vermeintlich demokratischen Entartungen verband. Die scharfen Angriffe auf die Republik sind oft betont und mit Blick auf die Folgen nicht ganz zu Unrecht als desaströs charakterisiert worden. In diesem Kontext werden die eskalierenden Korruptionsvorwürfe, derer sich nun alle Parteien bedienten und die, wie es schien, fast alle Parteien und das System betrafen, beschrieben. In den Wortgefechten wurde Barmat zu einer Metapher bei der Aushandlung von Grenzen: zwischen Politik und Wirtschaft, sozialdemokratischer Moral und Koalitionspolitik, Recht und Rechtsstaatlichkeit. In den Vordergrund rücken dabei, auf den ersten Blick vielleicht überraschend, nicht nur die langfristigen Folgen dieser Einschreibung von Barmat und Korruption in die Weimarer politische Kultur, sondern auch die Art und Weise, wie die Republik Zähne zeigte und sich behauptete.
Anklageschrift und Urteil im Falle Julius Barmats waren monumentale Zeugnisse juristischer Faktenaufarbeitung, die sich um das diffizile Problem der Beurteilung der Handlungsmotive der involvierten Akteure im Rahmen des Rechts drehten. Das Recht der Gesetze ist bekanntlich nicht unbedingt identisch mit moralischen Gerechtigkeitsvorstellungen; das gilt gerade für die Zeit der Weimarer Republik. Im Mittelpunkt der Kapitel fünf und sechs stehen die Versuche, erste große politische und halb fiktionale Narrationen der Skandal- und Korruptionsgeschichte mit Julius Barmat zu entwickeln: Gottfried Zarnows (alias Ewald Moritz) politischer Bestseller Gefesselte Justiz (1930/32) und Walter Mehrings Theaterstück Der Kaufmann von Berlin (1929), das sich in der avantgardistischen Theaterfassung Erwin Piscators nicht nur als – vorhersehbarer – Theaterskandal, sondern auch als Theaterflop erwies. Mehring und Piscator versuchten die Inszenierung eines aktuellen Zeitstückes, das von Kapitalismus handelte – und scheiterten. Deutlich werden dabei die Möglichkeiten und Grenzen der literarischen Repräsentation des Themas. Der von Gottfried Zarnow und einem unbekannten Buchprüfer namens Philipp Lachmann aktualisierte und weitergeführte Korruptionsdiskurs führt auf das Terrain der politischen Rechten, genauer besehen zu einem wenig beachteten Aufklärungsradikalismus der deutschen Zwischenkriegszeit mit all seinen Aporien. Bei dieser Gruppe von Personen, die als Grenzgänger der Vernunft beschrieben werden, handelte es sich um ein Sammelbecken von Unzufriedenen und Außenseitern, im wahrsten Sinne des Wortes um moderne Formen des Kleist’schen Michael Kohlhaas. Sie versuchten den Anschluss an die Zeit zu finden und setzten ihre Hoffnungen auf eine wie auch immer geartete nationale Revolution; sie waren Stichwortgeber des Nationalsozialismus, ohne dass sie in dieser Bewegung heimisch wurden.
Eine andere Form des politischen Radikalismus verfolgt das siebte Kapitel. Es handelt von den Forderungen nach Ausgrenzung und Enteignung der Juden, wie sie völkische Gruppen während des Skandals erhoben und wie sie die Nationalsozialisten im Kontext des Volksentscheids über die Fürstenenteignung 1926 unter dem Motto »Enteignet die Fürsten. Barmat braucht Geld!« programmatisch formulierten. Die Pointe dieses Kapitels besteht darin, dass von hier (ebenso wenig wie vom bekannten 25-Punkte-Programm der NSDAP) keine direkte Linie in die Zeit des Nationalsozialismus führt; vielmehr wird eine Reihe von vermittelnden Entwicklungen und bürokratischen Umwegen in den Blick genommen. An erster Stelle zu nennen ist die Ende 1929 einsetzende Weltwirtschaftskrise, in der das ältere Thema Barmat erneut auftauchte, auch als Beispiel dafür, dass sich die in die Währungsstabilisierung 1924/25 gesetzten Erwartungen nicht erfüllt hatten. Allenthalben tauchten seit 1930 Phänomene und Personen auf, die an den Grenzgänger des Kapitalismus erinnerten – und das einmal mehr nicht an den Rändern, sondern mitten in der Gesellschaft ehrbarer Unternehmer und Banker. Der exekutive Staat setzte auf die – ordnungspolitische – Neuziehung von Grenzen: die Eindämmung vermeintlich »spekulativer« Energien und korrupter Praktiken in Unternehmen, allemal in den Banken; reale Grenzkontrollen und Grenzsperren im Zuge von massiv verschärften Kapitalverkehrskontrollen mit dem Ausland; die Kontrolle von Staatsbürgern bei ihrem Grenzverkehr; neue Strafen wie die sogenannte »Reichsfluchtsteuer«. Wie sich diese In- und Exklusion entfaltete und wie sich dabei Techniken der administrativen Praxis mit ideologischen Begründungen, den »Barmat-Geist« auszutreiben, verschränkten und verstärkten, steht im Mittelpunkt dieses Kapitels. Konkret dargestellt wird diese Entwicklung am Beispiel des 1925 in den Skandal involvierten Finanziers Jakob Michael und einer Reihe anderer Personen, die in diesem Buch als Fürsprecher, Anwälte und Verteidiger Barmats auftauchen. Bis Ende der 1930er Jahre hatten sie entweder das Land verlassen oder waren in Konzentrationslagern interniert worden.
Die hier erzählte Geschichte Julius Barmats fiele sicherlich anders aus, wenn der Unternehmer nach seiner Ausreise aus Deutschland 1929 sang- und klanglos in der Welt der Geschäfte untergetaucht wäre. Stattdessen gibt es, wie im achten und neunten Kapitel gezeigt wird, eine Skandalspur, die in die Schweiz, nach Belgien, Frankreich und in die Niederlande führt. Das hat mit der zweiten großen Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit, der Weltwirtschaftskrise, zu tun, als auch in den Nachbarländern eine Vielzahl von kleinen und großen Fehlspekulationen von Privatpersonen wie von Banken »aufflogen«. In dieser Zeit erwarb sich Barmat den Ruf eines »internationalen Betrügers«, und das noch vor dem belgischen Barmat-Skandal 1937. Wie schon in den deutschen Auseinandersetzungen und zugleich befeuert durch die nationalsozialistische Propaganda diskutierten die Zeitgenossen auch im Ausland Fragen der Grenzen der sozial-moralischen Ordnung des Kapitalismus, der Grenzüberschreitungen und Ausweisungen. Indes waren die Debatten stets nationalspezifisch eingefärbt, wie etwa die französischen Hypostasierungen Barmats als vermeintlicher – jüdischer – Agent des deutschen Geheimdienstes illustrieren. Die Ereignisse in dem nahe-fernen Belgien zeigen überdies die in den 1930er Jahren explosive Verbindung von Demokratie-, Korruptionsund Kapitalismuskritik, die in den Sturz einer erfolgreichen Regierung, nicht jedoch des demokratischen Systems mündete.
Ausgehend von diesen internationalen faschistischen Debatten über »Bankster« und »jüdischen Hyperkapitalismus« verfolgt das zehnte Kapitel zunächst zeitgenössische Einschreibungsversuche von Julius Barmat in antisemitische Hetzfilme wie Jud Süß und den Ewigen Juden , die auch im Ausland gezeigt wurden. Vor diesem Hintergrund werden Überlegungen zu den radikalen Grenzüberschreitungen der NS-Zeit in Form der Vernichtungspraxis während des Zweiten Weltkrieges angestellt. Die Nachbetrachtungen nehmen schließlich das Verschwinden Julius Barmats aus dem sozialen Gedächtnis nach dem Krieg in den Blick, und zwar auch vor dem Hintergrund, dass einige wichtige Akteure der Auseinandersetzungen der Zwischenkriegszeit nach 1945 die deutsche Historiografie mitprägten. Es geht um das Verschwinden des kontaminierten Themas »Kapitalismus« zumindest in bundesdeutschen Debatten, was bis heute viele historiografische Leerstellen hinterlassen hat.
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