Adem Jazvin lehnte sich vorsichtig auf den Steinriegel und schaute der Arbeit Nurijas zu. Endlich sagte er: „Gott grüß dich, Nurija!“
Nurija hielt in der Arbeit inne und blickte auf Adem. Dabei sänftigte sich der Ausdruck seines Gesichtes, dessen Furchen und Falten während der Arbeit so tief und starr waren, als hätte sie selbst der Meißel eines Bildhauers eingegraben; und er erwiderte den Gruß: „Gott grüß dich, Adem, ich habe dich gar nicht bemerkt. Wie geht es dir?“ Er sprach dies mit einer tiefen, weichen Stimme, von der man nicht vermutet hätte, daß sie sich zu hohem und schmetterndem Rufe wandeln könne.
Adem vergaß auf die höfliche Frage zu antworten; er blickte vor sich hin und hatte die verlegene Miene eines, der sich nicht entschließen kann, davon zu sprechen, was seinen Geist eben beschäftigt. Endlich begann er zögernd: „Ob du erraten könntest, Nurija, woran ich denken mußte, als ich dich vorhin den Muharrem rufen hörte?“
Nurija verneinte nur stumm, indem er den Kopf ein wenig hob und dazu leise mit der Zunge schnalzte.
Adem setzt fort: „Wenn ich mir jemals die Stimme des Engels Džebrail vorstellte, so war es eine Stimme von solcher Kraft und solchem Klang, wie du sie hast. Ich kannte vor Jahrzehnten eine solche Stimme; wenn die rief, so kamen aus allen Weltgegenden bewaffnete Männer, als hätte sie diese Stimme aus dem kahlen Steinboden hervorgezaubert. Aber auch im Frieden braucht eine so vortreffliche Stimme nicht ungenützt in der Brust verschlossen zu bleiben. Ich möchte geradezu sagen, eine solche Stimme ist ein Schatz, den man nicht geizig für sich bewahren darf, sondern als rechtlicher Moslem irgendwie zum Nutzen der Allgemeinheit verwenden muß – weißt du noch immer nicht, wohin ich ziele, Nurija?“
„Bei Gott, ich weiß es nicht.“
„So höre mich an, Nurija, es gibt eine Möglichkeit, deine Stimme täglich für das Wohl der anderen zu nützen. Du bist zwar alt, obschon noch einige Jahre bis zu meinem Alter fehlen, aber deine Stimme ist ganz jung geblieben. Bei vielen Menschen bleibt etwas von dem Lauf der Zeit unberührt und wie für alle Ewigkeit jung. Bei einem ist es das Herz und beim andern das Auge, bei manchem die männliche Kraft und bei manchem wieder die Art seiner Rede; bei dir aber ist es die Stimme, die nicht ihresgleichen hat an Kraft und Schönheit. Diese Stimme muß schon ihrer Jugend wegen Gott wohlgefällig sein. Siehst du, wenn ich mir denke, daß du einmal mit dieser Stimme dort von der Brüstung des Minaretts zum Gebete riefest, das müßte eine rechte Verherrlichung Allahs sein.“
Nurija Sekirija wehrte bescheiden mit den Händen ab.
Adem suchte ihn weiter zu überreden: „Du weißt ja selbst, daß von unserer Džamija kein irdischer Gewinn zu holen ist; meine Bezüge sind gering – ich klage nicht darüber – aber sie sind so gering, daß ich zur Erhaltung des Gotteshauses und zur Bestreitung meiner eigenen Bedürfnisse noch an die Wohltätigkeit der anderen Glaubensbrüder angewiesen bin. Trotzdem würde ich gerne noch einen Teil abgeben, wenn du das Amt des Muezzins übernehmen wolltest.“ Nurija Sekirija wehrte nun auch mit Worten ab: „Mich macht es bange, an ein solches Amt zu denken. Schau, mein Leben ist so angefüllt, daß kaum mehr etwas Neues darin Platz finden kann. Hier mit meinen Steinen habe ich ehrlich viel Arbeit; und wenn ich auch ohne Weib und Kind bin, ich habe doch meine alte Mutter und den Muharrem; und dann hab ich mein Haus und meine Schafe.“
„Ich weiß, daß du deine Zeit nicht vergeudest; dieses neue Amt würde dich nur wenig an Zeit kosten, aber es brächte dir dereinst viel an Lohn.“
„Deine Worte klingen mir ans Ohr, aber aus meinem Innern höre ich keine Zusage. Sei nicht ungehalten, Adem, daß ich so zu dir rede. Aber ich habe noch nie im Leben etwas Wichtigeres unternommen, zu dem mir nicht eine innere Stimme geraten hätte. Noch nie sagte mir mein Inneres, daß ich berufen wäre, beim Gottesdienst mitzuwirken.“
„Ich habe den Samen in dich gelegt, und wir können abwarten, ob er aufgehen wird. Schwer wäre das Amt nicht für dich; du müßtest nicht einmal hinaufsteigen aufs Minarett. Du könntest hier von der Einfriedung des Hofes aus zum Gebet rufen. Deine Stimme ist so stark, daß sie nicht eines erhöhten Ortes bedarf, um rings in der Ferne vernommen zu werden. Ich höre es im Geiste, wie von deiner prächtigen Stimme der Gebetruf erklänge. Du riefst nicht bloß die Bewohner unseres Dorfes, dein Ruf würde über das ganze Tal erschallen bis jenseits zu den Bergen; auch andere Dörfer würden ihn hören und dazwischen wäre überall dein Ruf vernehmbar, in den unzugänglichsten Klüften, wo scheue Tiere hausen, und bis hinauf zu den Vögeln in der Luft. Es wäre wahrhaft erhebend, so zum Gebete rufen zu hören.“
Über Nurijas Gesicht ging ein kaum merkliches Lächeln der Freude: „Mich hat Allah nicht eitel erschaffen. Wahrhaftig, ich finde es unvergleichlich erhebender, wenn du selbst dort oben dich über die Brüstung neigst und dein Antlitz mit dem weißen Haar und Bart so verklärt herniederschimmert, als ginge den Gläubigen ein neues Gestirn auf.“
„Ja, mein weißer Bart – siehst du, Nurija, ich scheue keine Mühe, wenn es gilt, Gott zu dienen. Aber manchmal vermag ich kaum mehr die vielen Stufen da hinauf zu bewältigen. Und hinauf muß ich, denn anders würde es bei meiner schwachen Stimme denen dort unten nicht kenntlich, daß es Zeit sei zur Andacht. Auch meine Augen werden schon schwach. Ich sehe dort oben nicht mehr, wohin ich rufe. Das untere Dorf findet mein Blick nicht, ja nicht einmal die Häuser hier neben der Džamija. Es ist so, als stünde ich über einer grauen Wolke und riefe irgendwo in das Weltall hinein.“
„Vielleicht solltest du dir unter den Jungen einen wählen, den du dir zum Muezzin erziehen könntest.“
„Ich dachte schon manchmal an Muharrem, dessen Stimme zwar nicht so kraftvoll ist wie die deine, die aber beim Gesang dem Ohre sehr angenehm ist. Freilich ist Muharrem nicht von hier; und dann hinge es von deiner Zustimmung ab, da er doch in deinem Dienste steht.“
„Ich hätte wohl nichts dagegen. Wir können es noch überdenken.“
Nurija setzte wieder den Meißel an und begann von neuem zu hämmern.
Adem schaute ihm eine Weile nachdenklich zu, dann fragte er: „Hast du viel Arbeit?“
Nurija hielt wieder inne: „Ja; es ist für Zulfo Omerbegović. Noch gestern saß er wie durch fünfzig Jahre Tag für Tag in seinem Dučan in der Čaršija von Mostar. Heute aber liegt er an der Mauer der Moschee des Derwisch Pascha. Er war ein Freund meines Bruders, und ich will, daß er schon in der ersten Nacht nicht ohne Grabstein bleibt. Noch diesen Nachmittag schicke ich Muharrem mit dem Stein nach Mostar.“
Adem blickte in der Richtung gegen Mostar und sagte: „Den Omerbegović hab ich auch gekannt. Selbst in den unruhigen Zeiten saß er gelassen in seinem Dučan. Er war ein echter Türke; Allah wird ihn mit Wohlgefallen betrachten.“
Nurija blickte nach dem Stand der Sonne: „Und du gehst schon zur Mittagsandacht rufen?“
„Es ist an der Zeit.“
„Das wußte ich nicht, da muß ich eilen;“ und Nurija hieb mit neuen kräftigen Schlägen auf den Stein los. Adem aber wandte sich langsam ab und ging dann mit seinen leisen Schritten dem Minarette zu.
Noch während die beiden Männer miteinander sprachen, kam ein Geräusch von dem geschlossenen Balkon über der Werkstatt, das die zwei aber nicht beachteten. Zuerst zeigte sich eine hagere alte Frauenhand mit rotgefärbten Fingernägeln in der Spalte unter dem Holzgitter; und diese Hand schob das Gitter so hoch empor, daß Raum genug wurde zum Durchstecken eines Kopfes. In dieser Öffnung wurde das verrunzelte Antlitz der alten Memnuna, der Mutter Nurijas, sichtbar. Sie streckte den Kopf, der in ein leichtes, dunkles Tuch gehüllt war, vor und schaute mit den tränenden, rotgeränderten Augen nach ihrem Sohne aus. Aber erst als der Hodža in das Minarett getreten war, rief sie: „Nurija, Nurija!“
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