Unter Hardys Anleitung gelang es Ramanujan im Lauf der Zeit, eine Reihe wichtiger Ideen in eine mathematisch klare Form zu bringen, die auch für andere Leute verständlich war. Sein Traum, seine Resultate in wissenschaftlichen Journalen zu publizieren, erfüllte sich. Akademische Ehrungen folgten: Ramanujan wurde zum Fellow der Cambridge Philosophical Society ernannt, er wurde Fellow der Royal Society und Fellow des Trinity College.
Trotzdem fühlte sich Ramanujan in England nicht wohl und hatte auch mit schweren gesundheitlichen Problemen zu kämpfen. Im Alter von zweiunddreißig Jahren – Ramanujan war in Mathematikerkreisen inzwischen berühmt und hochangesehen – reiste er nach Indien zurück und starb dort wenig später an Tuberkulose.
Niemand weiß, welche großen Entdeckungen er noch gemacht hätte, wenn ihm noch ein paar Jahrzehnte Zeit geblieben wäre. Genauso wenig lässt sich sagen, wie er sich entwickelt hätte, wenn er von früher Jugend an in strengen mathematischen Formalismen trainiert worden wäre, anstatt unbekümmert mit ausgeliehenen Mathematikbüchern herumzuträumen. Vielleicht wäre dann ein noch viel größerer Mathematiker aus ihm geworden – vielleicht hätte klassischer Mathematikunterricht aber auch nur einen braven, langweiligen Gleichungslöser aus ihm gemacht, der es niemals geschafft hätte, mit unbeschwerter Kreativität mathematische Wahrheiten zu erraten.
Fest steht, dass bauchgefühlte Intuition und präzises Argumentieren einander nicht ausschließen – das zeigt Ramanujans Beispiel ganz deutlich. Woher der kreative Funke kommt, der eine neue Idee in bunten Farben explodieren lässt, ist gar nicht entscheidend. Manchmal blitzt ein genialer wissenschaftlicher Gedanke ganz plötzlich auf wie eine Sternschnuppe, manchmal muss die wissenschaftliche Kreativität erzwungen werden, mit knochenharter Arbeit und viel sinnlos vollgekritzeltem Papier.
Aber in jedem Fall muss man es schaffen, die eigenen kreativen Gedanken für andere Leute nachvollziehbar werden zu lassen. Etwas selbst als wahr zu erkennen, ist noch keine Wissenschaft. Schließlich könnte es sein, dass jemand anderer mit ähnlich kreativen Ideen das Gegenteil für richtig hält. Die Arbeit ist erst dann erledigt, wenn man sie so klar formuliert hat, dass jeder Widerspruch zwecklos geworden ist.
Die Kunst des logischen Denkens
Diese Art zu denken fällt uns meistens schwer. Im Alltag legen wir normalerweise keinen Wert darauf, unsere Gedanken in logische Ketten zu ordnen, in denen jede Aussage zwingend aus der vorangegangenen folgt. Viel häufiger denken wir in Analogien: Wir gehen davon aus, dass in ähnlichen Situationen ähnliche Gesetze gelten. Eine Kerzenflamme kann man mit Wasser löschen. Daher kann ich vermutlich auch ein Lagerfeuer mit Wasser löschen. Eine Kartoffel wird weich, wenn ich sie in Wasser koche. Daher kann ich vermutlich auch eine Rübe in Wasser weichkochen. Wenn mir jemand meine Schokolade wegnimmt, werde ich ungemütlich. Daher verstehe ich, dass mich der Hund böse anknurrt, wenn ich ihm seine Wurst weggenommen habe.
Analogien sind auch in der Wissenschaft oft nützlich. Sie helfen uns, in unserem Kopf Bilder entstehen zu lassen: Im Atom kreisen Elektronen um den Atomkern, ähnlich wie Planeten um die Sonne. Das können wir uns einigermaßen vorstellen. Eine logische Erklärung oder gar ein Beweis ist es aber nicht. Den Elektronen sind die Planeten völlig egal. Sie bewegen sich nicht deswegen so, weil sie von den Planeten dazu gezwungen wurden.
Besonders heikel sind Analogieschlüsse, die einen wissenschaftlichen Gedanken in ein ganz anderes Teilgebiet der Wissenschaft verpflanzen. In der klassischen Physik gilt Newtons Gesetz vom Gleichgewicht der Kräfte: Jede Kraft hat eine gleich große, aber entgegengerichtete Gegenkraft. Die Sonne zieht durch ihre Schwerkraft die Erde zu sich, die Erde zieht mit derselben Kraft die Sonne in die andere Richtung. Wenn ein Buch auf dem Tisch liegt, drückt es nach unten auf die Tischplatte, die Tischplatte drückt mit derselben Kraft von unten gegen das Buch.
Daran fühlt man sich vielleicht erinnert, wenn man kleinen Kindern etwas vorschreiben möchte und sie dann aus purem Trotz ihre Kräfte genau in die entgegengesetzte Richtung lenken. Man möchte sie mit sanftem Druck dazu bringen, endlich ins Bett zu gehen, und plötzlich sind sie erst recht hellwach. Man weist sie darauf hin, dass mit Cremespinat eher nicht herumgekleckert werden soll, und dann wird das Tischtuch erst recht in ein dunkelgrünes Schüttbild verwandelt.
Wenn nun jemand stolz verkündet: „Das muss so sein, laut Newtons Gesetz gibt es zu jeder Kraft eine entgegengesetzte Gegenkraft!“, dann demonstriert er damit nicht seine naturwissenschaftliche Bildung, sondern er beweist, dass er von der Physik nichts verstanden hat. Natürlich hat das Trotzverhalten von Kindern nichts mit Newton’scher Mechanik zu tun. Vielleicht mag uns das eine an einem bestimmten Punkt an das andere erinnern, aber eine logische Verbindung dazwischen gibt es nicht.
Analogieschlüsse fühlen sich in unserem Kopf wunderbar sinnvoll an, auch wenn sie überhaupt keine Beweiskraft haben. In der Esoterik verzichtet man oft überhaupt auf logische Argumente und gibt sich von vornherein mit Analogien zufrieden: In meinem Leben gibt es bessere und schlechtere Zeiten. Und am Himmel stehen die Planeten mal in diesem, mal in jenem Sternzeichen. Also muss beides miteinander zu tun haben. Mein Wasserkocher funktioniert nicht, wenn das Stromkabel kaputt ist. Mein Körper funktioniert momentan auch nicht richtig. Also müssen da auch irgendwelche Energieflüsse gestört worden sein. Die Quantenphysik ist etwas Verwirrendes. Und das menschliche Bewusstsein ist auch etwas Verwirrendes. Also lässt sich das menschliche Bewusstsein mit Quantenphysik erklären.
Das alles sind nur Scheinargumente. Man lernt durch sie nichts Neues. Es ist, als würde man gefragt werden, wie eine elektrische Eisenbahn funktioniert, und einfach nur antworten: Im Atom drehen sich die Elektronen um den Atomkern, und in der Eisenbahn drehen sich die Räder. Deshalb fährt die Eisenbahn. Das ist keine Erklärung. Man könnte eine logische Brücke bauen, von den Elektronen, die sich durch einen Draht bewegen, über die mechanische Kraft, die dadurch im Elektromotor erzeugt wird, bis zum Drehmoment, das am Ende die Räder antreibt. Aber solange man eine solche logische Brücke nicht baut, sind Analogien wissenschaftlich wertlos.
Das ist ein guter Grund, sich mit Mathematik zu beschäftigen: Mathematik zeigt uns, wie weit man kommen kann, wenn man mit präziser Logik vorgeht. Sie zwingt uns, Ordnung in unserem eigenen Kopf zu schaffen. Sie bringt uns bei, die Welt zu verstehen, als Verkettung logisch zwingender Zusammenhänge, als Geflecht von Grundannahmen und logischen Regeln, von Prämissen und Schlussfolgerungen.
Wir beginnen mit ganz einfachen Gedanken, auf die wir uns alle einigen können. Und dann überlegen wir, welche anderen Ideen daraus folgen. Schritt für Schritt gelangen wir von einer Wahrheit zur nächsten. Jeder einzelne Schritt ist nachvollziehbar und einfach. Und wenn wir es richtig machen, stoßen wir dabei vielleicht auf großartige Ergebnisse, die wir mit reiner Intuition niemals erraten hätten.
Wie man mit logischen Argumenten Lebensträume zerstört, warum manche Aussagen weder wahr noch falsch sind und wie der größte Logiker der Welt ein höchst unlogisches Ende fand: Die Mathematik kann niemals alles beweisen, aber das muss sie auch nicht.
Der Barbier von Sevilla rasiert alle Männer der Stadt, die sich nicht selbst rasieren. Rasiert er sich also selbst oder nicht? Wenn nicht, dann gehört er zu den Männern, die sich nicht selbst rasieren, und sollte daher vom Barbier von Sevilla rasiert werden. Aber wenn er das tut, rasiert er sich ja selbst und ist deshalb gar nicht für den eigenen Bart zuständig. Was nun?
Читать дальше