Als er zum Waldesrand kam, trat ihm Hermes entgegen, der Gott mit dem goldenen Stabe. Er hatte Gestalt und Angesicht eines schönen Jünglings und begrüßte Odysseus freundlich. Aber sogleich wurde er sehr ernst.
»Unglückseliger, wie kannst du es wagen, so allein und fremd hier umherzustreifen!«, sagte er tadelnd. »Du weißt nicht, was dich bedroht: Deine Freunde sind bei Kirke, der zauberkundigen Göttin. Sie hat sie in Schweine verwandelt und im Stall eingesperrt. Willst du etwa hingehen, sie zu retten? Du würdest nur ihr Schicksal teilen und nie wieder zurückkehren! Aber ich will dir helfen!« Er beugte sich nieder und zog ein Kräutlein aus der Erde, das gerade zu seinen Füßen wuchs. Es war an der Wurzel schwarz und hatte eine milchweiße Blüte. Er reichte es Odysseus. »Wenn du das Kräutlein Moly hast, kann dir kein Zauber etwas anhaben«, sprach Hermes. »Geh nun zu Kirkes Haus und folge ihr auch unbesorgt in den Saal! Sie wird dir einen Trank bereiten, in den sie ihre verderblichen Kräuter mischt. Dir aber werden sie nicht schaden! Berührt sie dich darauf mit ihrem Stabe, so reiße dein Schwert von der Hüfte und drohe ihr, sie zu töten. Dann wird sie dich bitten, ihr das Leben zu schenken und ihr Gast zu sein. Du aber verlange von ihr, dass sie sogleich deine Gefährten von dem Zauber befreie und den mächtigen Eid der Götter schwöre, euch nichts Übles mehr zuzufügen.«
Damit kehrte der Bote der Götter zurück zum Berge Olympos. Odysseus aber steckte das Kräutlein zu sich und begab sich eilig zum Hause der Kirke.
Sie kam ans Tor, als sie ihn hörte, begrüßte ihn freundlich und führte ihn in den Saal. Alsbald saß er in einem kunstreich geschnitzten silberbeschlagenen Sessel und sah unbehaglich zu, wie sie das Gebräu mischte und in einen goldenen Becher goss, den sie lächelnd vor ihn hinstellte. Freilich hätte er ihr den Trank lieber vor die Füße geschüttet, aber er musste tun, was ihm Hermes geboten hatte, sonst gab es wohl für ihn und die Gefährten keine Rettung mehr.
So trank er. Zwar schlich es ihm dabei kalt über den Rücken und er schielte an sich hinab, ob ihm etwa schon ein Rüssel wüchse oder Borsten aus seiner Haut zu sprießen begännen und seine Hände sich in Schweinefüße verwandelten.
Aber nichts geschah.
Kirke stand vor ihm und hielt einen Stab in der Hand. Sie lächelte, aber es war ein grausames Lächeln. »Nun geh in den Stall und lege dich zu deinen Gefährten!«, sagte sie und hob den Stab.
Da riss Odysseus das Schwert von der Hüfte.
Sie schrie auf und sprang zur Seite. Ihre Augen glitzerten böse, aber zugleich schien sie Angst zu haben.
»Du … du widerstehst meinem Zauber?«, stieß sie ungläubig hervor. »Das hat noch kein Sterblicher vermocht! Du aber hast getrunken und bedrohst mich mit dem Schwert! Wer bist du und wohin führt dich dein Weg?«
Plötzlich wurde ihr Blick starr, als wäre ihr ein seltsamer Gedanken gekommen.
»Wahrhaftig – du musst Odysseus sein!«, sagte sie und musterte ihn neugierig. »Hermes hat mir einmal vor langer Zeit verkündet, eines Tages würde Odysseus in einem schwarzen Schiff von Troja kommen, nachdem er lange an fremden Küsten umhergeirrt. So stecke dein Schwert ein und sei mir willkommen! Du bist mein Gast und kannst mir vertrauen.«
Odysseus lachte zornig.
»Wie soll ich dir vertrauen? Glaubst du, ich weiß nicht, dass du mit deinen Zauberkünsten meine Gefährten in Schweine verwandelt hast? Nein, ich werde mich hüten, an deine Gastfreundschaft zu glauben, ehe du mir nicht den mächtigen Eid der Unsterblichen schwörst, dass du nichts Übles mehr im Sinn hast!«
Da schwur sie den Eid der Götter und er wusste, dass sie nicht wagen würde, ihn zu brechen.
Dann rief sie ihre Dienerinnen, die alsbald den Saal zu schmücken begannen. Sie breiteten purpurne Decken über die Sessel und stellten ein silbernes Tischlein vor jeden hin. Sie trugen goldene Körbe, Schüsseln und Becher herein und Wein in einem silbernen Kruge. Eine von ihnen fachte Feuer an unter dem großen Dreifuß mit dem Kessel aus blinkendem Erz, und als das Wasser dampfte, führte sie Odysseus zum Bade, mischte heißes und kaltes Wasser, bis es die rechte Wärme hatte, und goss es ihm über Haupt und Schultern. Da wich die Müdigkeit von ihm und Kraft und Mut kehrten zurück. Zuletzt brachte sie duftendes Öl, einen Leibrock aus feinem Linnen und einen wollenen Mantel, und als Odysseus gesalbt und gekleidet war, führte sie ihn zurück zum Saal.
Unterdessen hatte die würdige Schafferin Brot und Fleisch und viele herrliche Gerichte aufgetragen und Kirke lud Odysseus ein, sich an den Tisch zu setzen und zu essen. Aber er sah die köstlichen Speisen nicht einmal an, sondern saß stumm und finster in seinem prächtigen Sessel.
»Was bekümmert dich?«, fragte Kirke und winkte der Magd, Odysseus das silberne Wasserbecken zu reichen, in dem man vor dem Mahle die Hände zu waschen pflegte.
»Warum verschmähst du Speise und Trank?«, fuhr sie fort.
»Du weißt, dass du von mir nichts mehr zu befürchten hast: Darum iss und trink und vergiss alles Ungemach!«
»Nein«, sagte Odysseus, »ich will deine Gastfreundschaft nicht, ehe du meine Gefährten von dem Zauber erlöst und ihnen ihre frühere Gestalt wiedergegeben hast!«
Kirke zauderte einen Augenblick. Dann erhob sie sich und verließ schweigend den Saal und er sah sie draußen über den Hof gehen. Gleich darauf kam sie zurück und jagte ein Rudel Schweine vor sich her.
Sie trieb sie in den Saal und da standen sie in einer Reihe und Odysseus schossen vor Grimm und Schmerz die Tränen in die Augen, als er sie erblickte.
Kirke aber ging schnell von einem zum andern und bestrich sie mit einer Salbe.
Da begannen sie sich augenblicklich zu verwandeln, die Borsten fielen von ihnen ab, aus den hässlichen Tierkörpern kamen menschliche Gesichter hervor, die kurzen dicken Beine wurden zu Händen und Füßen und alsbald standen die Männer aufrecht da und sahen stattlicher aus als zuvor. Sie stürzten auf Odysseus zu und riefen alle durcheinander vor Freude über ihre Rettung und vor Kummer und Zorn über die erlittene Schmach.
Kirke aber wünschte, dem ein Ende zu machen. »Odysseus, Sohn des Laertes«, sagte sie schlau, »willst du nicht zum Schiff hinabgehen und die übrigen Gefährten holen? Ihr sollt auch alles Gerät und eure Güter in die Felsenhöhle schaffen: Dort liegen sie sicher.«
Denn Kirke hatte beschlossen, Odysseus nicht so bald wieder ziehen zu lassen. Sie wusste, er war tapfer und klug, und er gefiel ihr sehr.
Odysseus machte sich eilig auf den Weg nach dem Strand. Kirke hatte recht: Gewiss waren die Gefährten längst in großer Sorge um ihn!
Sie liefen ihm auch sogleich erleichtert entgegen, als sie ihn kommen sahen, und fragten, was für ein Unheil die anderen getroffen habe.
Odysseus lachte. »Kommt mit mir, so könnt ihr selbst sehen, wie sie trinken und schmausen und es sich wohl sein lassen in Kirkes herrlichem Hause!«
Und er erzählte, was sich zugetragen hatte. »Aber fürchtet euch nicht!«, fügte er hinzu. »Sie hat mir den mächtigen Eid der Götter geschworen, uns in Zukunft nichts Übles mehr zuzufügen. Nun schafft alles, was auf dem Schiff ist, in die Höhlen droben in den Felsen. Und dann wollen wir eilends zu Kirkes Haus zurückkehren!« Sie machten sich auch flink an die Arbeit, nur Eurylochos stand da und rührte keinen Finger. »Seid ihr närrisch geworden?«, sagte er wütend zu den anderen. »Warum wollt ihr in euer Verderben rennen? Habt ihr schon vergessen, wie der tapfere Odysseus euch zwang, mit ihm in der Höhle des Kyklopen zu bleiben, und wie unsere Freunde seine Tollheit mit dem Leben bezahlten? Ich sage euch, Kirke wird uns alle in Schweine, Wölfe oder Löwen verwandeln und wir werden dann ihr Haus bewachen müssen!«
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