Kaum erholte man sich von einem Schlag, folgte der nächste. Vermögensenteignung und Sklavenarbeit waren an der Tagesordnung. Wir waren Freiwild für die deutsche Polizei und die Besatzungsbehörden, da jeder von ihnen die Möglichkeit hatte, jüdisches Eigentum zu konfiszieren und jüdische Menschen abzuführen und zu verschleppen. Wir waren umgeben von strengen deutschen Bewachern, und zu ihnen gesellten sich jene feindselig gesinnten Polen, die sich jetzt als Volksdeutsche fühlten und die Unterdrücker eifrig unterstützten. Es gab aber auch Polen, die zu uns Juden gute Beziehungen unterhielten. Meist waren es einfache Arbeiter oder kleine Bauern, fromme und aufrichtige Katholiken, die jede noch verbliebene Möglichkeit ausnützten, uns zu helfen. Freilich waren ihre Bemühungen nicht ungefährlich, denn die Hilfsbereiten mussten die Macht jener einflussreichen Polen fürchten, die judenfeindlich gesinnt waren. So konnten wir keine entscheidende Hilfe erwarten. Der Fluchtweg war von einer unbezwingbaren Mauer verstellt. Nicht nur die Besatzungsmacht riegelte uns von der Außenwelt ab, auch die breite Schicht der polnischen Bevölkerung bildete eine Art Sperrmauer. Die systematisch durchgeführte Judenhetze in Bild und Schrift hatte in vielen Köpfen so viele Vorurteile erzeugt, dass man nie wusste, wie der betreffende Pole eingestellt war, an den man gerade geriet – judenfreundlich oder judenfeindlich. Mochte die Flucht infolge einer Verkettung von Glücksfällen gelegentlich Einzelnen gelingen, ganze Familien konnten nicht fliehen. Und welcher verantwortungsbewusste Familienvater oder Sohn hätte sich in solchen Notzeiten von den Seinen getrennt? So blieb kein anderer Ausweg als das standhafte Ausharren angesichts einer Gefahr, die täglich drohender auf uns zukam.
Seit Anfang 1941 sprach man davon, dass die jüdische Jugend der benachbarten Städte zum dauernden Arbeitseinsatz ausgehoben worden sei. Da sich nicht genügend junge Leute zum freiwilligen Einsatz meldeten, führten die Gestapo und die unter ihrem Kommando stehende jüdische Polizei Überfälle auf die jüdischen Einwohner durch, holten sie nachts aus den Betten und verschickten sie zwangsweise in Arbeitslager. In nächster Zeit würden sich auch bei uns solche Überfälle ereignen, davon waren wir überzeugt.
An einem Freitag dieser schreckerfüllten Tage fanden wir uns zum letzten Male zur Heiligung des Schabbats ein. Die Zeremonie wurde in großer Hast durchgeführt. Bei zwei kleinen Kerzen, die unruhig flackerten und unser Zimmer spärlich beleuchteten, heiligte mein Vater mit dem stillen Schabbatgebet diesen sonst so fröhlichen, jetzt aber von Angst erfüllten Schabbatabend. Zitternd und mit ängstlichen Gesichtern saßen wir vier Kinder beim Gebet. Unablässig bohrte in mir der Gedanke: »Wer weiß, ob das nicht der letzte Schabbat ist, bei dem ich dem Gebet am Tische meines Vaters lausche.«
Nach dieser kurzen Andacht gab mir meine Mutter schnell das Päckchen mit dem Abendessen und geleitete mich mit tränenfeuchtem Gesicht aus dem Haus, denn ich musste nun schnell in mein Versteck verschwinden, um nicht nachts von der Gestapo geholt zu werden.
Einige Nächte hindurch versteckte ich mich bei christlichen Freunden, die außerhalb der Stadt wohnten. Dann aber blieb ich wieder im Elternhaus. Am Abend des 25. März – es war ein Dienstag – erzählte jemand, dass der Überfall für die kommende Nacht geplant sei. Bei dem letzten Überfall auf die benachbarte Stadt sei man vor Schießereien und Mord nicht zurückgeschreckt. Diese Berichte in ihren verschiedenen Versionen versetzten die jüdischen Einwohner in schreckliche Unruhe. War es wahr, dass man Leute, die man in ihrem Versteck aufgestöbert hatte, an Ort und Stelle erschossen hatte? Dass man ganze Familien als Geiseln verschleppt hatte, wenn irgendein gesuchtes Familienmitglied unauffindbar war? Solche Nachrichten ließen uns das Blut in den Adern gefrieren, und wir waren überzeugt, dass auch wir bald voneinander Abschied nehmen müssten. Manche Familien rannten planlos auseinander, um sich in Schlupfwinkeln außerhalb der Stadt zu verstecken.
Die angsterfüllten Nächte schienen kein Ende zu nehmen. Ich wanderte nachts von einem Versteck zum anderen. Einmal hauste ich auf dem Speicher, dann wieder im Keller, immer in der Hoffnung, meinen Verfolgern zu entkommen. An jenem Dienstagabend also, als viele meiner Freunde wieder in ihr Versteck gelaufen waren, beschloss ich, zu Hause zu bleiben. Vergebens flehte mich meine Mutter an, ich solle mich verbergen. Ein plötzlicher Widerwille gegen dieses nächtliche Versteckspiel schwemmte alle Bedenken weg und zwang mich wider mein besseres Wissen, die Nacht im Hause zu verbringen. Ich beschloss, der wilden Panikstimmung nicht nachzugeben und ging ruhig zu Bett. Um vier Uhr morgens klopfte unsere Nachbarin an die Wohnungstür. Im Nu waren wir hellwach. Es war zwar stockfinster, aber von der Straße her drang wirrer Lärm herauf, und das Knallen schwerer Soldatenstiefel auf dem Steinpflaster ließ augenblicklich die schlimmsten Befürchtungen wach werden. Mit einem Sprung war ich beim Fenster und schob vorsichtig den Vorhang beiseite. Ich glaubte, in einen gespenstischen Abgrund zu sehen. Die gegenüberliegenden Häuser wurden bereits von SS-Leuten bewacht. In einer Hand hielten sie das aufgepflanzte Gewehr, in der anderen eine Taschenlampe, mit deren Strahl sie die Häuserfront abtasteten. Aus einer Haustür wurden gerade Männer und Frauen mit Kolbenschlägen auf die Straße hinausgestoßen. Bei den Frauen vergewisserte man sich rasch, ob sie nicht verkleidete Männer waren. Dann stieß und schlug man sie in das Haus zurück. Mutter und Geschwister hatten diese Szene vom Fenster aus beobachtet und begannen laut zu weinen. Ihre Klagen und dazu die lähmende Furcht vor dem nun Kommenden ließen mich plötzlich an Händen und Füßen zittern. Mir begannen die Zähne zu klappern, und nur taumelnd konnte ich mich aufrechterhalten. Ich war völlig ratlos, was ich nun mit mir beginnen sollte. Wohin konnte ich jetzt noch laufen, um mich zu verstecken? Alle Überlegung war sinnlos, denn für eine Flucht war es zu spät. Ich umarmte meine Mutter und bemühte mich, ihren Tränenstrom zu stillen. »Ich will schnell weglaufen und versuchen, mich irgendwo zu verstecken«, versprach ich ihr. »Ich glaube, bei den Nachbarn findet sich noch ein Unterschlupf.« So rannte ich schnell in den ersten Stock hinunter zu den Nachbarn. In höchster Eile beschlossen wir, einen großen Schrank vor die Zimmertür zu stellen, hinter der wir uns verbergen wollten. Der Schrank war aber nicht hoch genug, um die Tür ganz zu verdecken. So schob uns die Frau des Nachbarn kurzerhand in den Schrank hinein und deckte uns mit den darin hängenden Kleidern zu. Noch ehe wir uns in unserem Versteck eingerichtet hatten, hörten wir schon das ohrenbetäubende Geschrei von Gestapo und Polizei: »Männer raus! Verfluchte Juden raus!« Die schweren Schritte kamen auf uns zu, und ehe wir uns besinnen konnten, waren die SS-Männer schon in der Wohnung und rissen auch die Schranktür auf. Mit Hurrageschrei durchwühlten sie den Schrank und stießen uns schimpfend heraus, ein Hagel von Schlägen mit dem Gewehrkolben ging auf uns nieder. Von Fußtritten angetrieben, liefen wir zur Treppe, und ein Stoß beförderte uns die ganze Stiege hinunter. Unten stieß man mich zu den schon versammelten Nachbarn. Meine Mutter stand im zweiten Stock und sah mit Tränen in den Augen dieser Szene zu. Ich blickte hinauf zu ihr – gerne hätte ich sie noch ein letztes Mal umarmt und mich von ihr verabschiedet. Aber Schläge und Kolbenhiebe stießen mich immer weiter weg von unserem Heim und trieben mich der großen Schar der Leidensgenossen zu. Auf der Straße stand schon dichtgedrängt eine Menge von Männern, von denen manche blutig geschlagene Köpfe hatten. Augenblicklich wurden wir von Gendarmerie und Polizei umzingelt, die uns von nun an mit aufgepflanztem Gewehr bewachten. Als unsere Schar groß genug war, hieß es: Vorwärts, marsch! Schließlich kamen wir zu einer Fabrik, vor der uns schon eine große Gruppe von Gefangenen erwartete.
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