Einige schossen in die Luft, um die allgemeine Verwirrung zu steigern. Dann ertönten die Kommandorufe: »Reihenweise zu fünft aufstellen! Auf geht’s! Marsch! Marsch! Schnell anschließen!« So marschierten wir mit ungewissem Ziel aus der Ortschaft hinaus, bis wir vor einer großen Fabrikhalle haltmachten, in die wir mit Geschrei und Schlägen hineingepfercht wurden. Sofort traten die älteren Männer zusammen, um eine Delegation zu wählen, die sich erkundigen sollte, warum man uns hier gefangen hielt. Nach ihrer Rückkehr erzählten die Männer, man habe von einem Versteck aus auf deutsche Soldaten geschossen und jeder zehnte Mann von uns würde erschossen werden, falls wir die Schuldigen nicht preisgäben. Unsere Delegierten forderten uns auf deutsch, polnisch und jiddisch auf: Wer ein Gewehr besitzt, soll sich melden! Aber niemand meldete sich. Schließlich beschworen sie uns eindringlich, diejenigen, die Waffen besäßen, sollten vortreten. Um den Rabbiner versammelten sich nun die Gemeindeältesten und berieten, wie ein großes Blutvergießen zu vermeiden sei.
Schließlich traten einige alte Männer auf die Gruppe der Beratenden zu und teilten ihnen ihren Entschluss mit, ihr Leben freiwillig für das der übrigen Gemeindemitglieder zu opfern. Ich drückte mich indessen fester an meinen Vater, der traurig, aber gefasst abseits stand. Er war voll düsterer Vorahnungen. »Wir sind zu spät davongelaufen«, sagte er zu mir. »Schon vor einem Jahr hätten wir Europa verlassen sollen, das wäre richtig gewesen.« Unter schwerer Bewachung wurden wir schließlich von den Soldaten von der Fabrikhalle hinaus ins freie Feld geführt und erhielten den Befehl, uns hinzulegen. Jeder zitterte vor Angst, da er glaubte, er könne jener Zehnte sein, der das Leben lassen sollte. In diesem Augenblick hielten vor uns einige Militärautos. Ein hoher Offizier stieg aus und versammelte die übrigen Offiziere um sich. Nach einigen Minuten Beratung erhielten wir den Befehl: »Aufstehen! Ihr könnt wieder nach Hause gehen! Ihr seid frei!«
Nachträglich erfuhren wir, dass man tatsächlich auf deutsche Soldaten geschossen hatte, worauf der Kommandeur den Befehl gegeben hatte, alle Juden zusammenzutreiben und jeden zehnten zu erschießen. Inzwischen aber hatte die Feldgendarmerie die wirklichen Täter aufgespürt. Es waren einige versprengte polnische Soldaten, die entschlossen waren, unter allen Umständen Widerstand zu leisten. Sie hatten sich auf dem Kirchturm verschanzt und von dort aus auf die deutschen Soldaten geschossen.
Noch einmal war uns die Rückkehr ins großelterliche Haus vergönnt. Wie glücklich leuchteten die Augen unserer Mutter, als wir zurückkamen. Im Überschwang der Freude waren wir geneigt, gleich alles zum Guten auszulegen, und meinten, dass die Deutschen wohl nichts Böses im Schilde führten und mit ihren Maßnahmen nur die Schuldigen zu treffen suchten; benähme sich nur jeder vorschriftsmäßig, so würde ihm kein Unrecht geschehen. Von anderen Ortschaften jedoch drangen bedrohliche Nachrichten zu uns. Man erzählte, dass man Männer zu Hunderten erschossen habe und dass im Chaos der Besetzung ganze Ortschaften ausgesiedelt worden seien. Andere Gerüchte dagegen besagten, dass in manchen Städten vollkommene Ruhe und Ordnung herrsche. Die deutsche Besatzung habe dort befohlen, die Geschäfte wieder zu öffnen, die Betriebe wie bisher weiterzuführen; mit einem Wort, sie sorge für eine schnelle Normalisierung des Lebens, ohne aber bei der Behandlung der Bevölkerung einen Unterschied zwischen Juden und Nichtjuden zu machen.
Auch hier in dem kleinen Städtchen Pilica legte sich die anfängliche Aufregung wieder. Wir konnten sehen, wie die Soldaten sich friedlich mit der Bevölkerung unterhielten. Man tat niemandem etwas zuleide, und so wich die Angst langsam von uns. Gerüchten von Geiselerschießungen und Gräueltaten, die sich in anderen Ortschaften ereignet haben sollten, wollten wir einfach kein Gehör mehr schenken. Zu tief war in der jüdischen Bevölkerung der Glaube eingewurzelt, dass die Deutschen ein Volk von hoher Kultur seien, bekannt als Träger humanitärer und freiheitlicher Ideen, das Volk der Dichter und Denker. Die ältere jüdische Generation wusste noch von Begegnungen mit dem Deutschland vor 1918 zu berichten, zudem sie Vertrauen hatten und dem sie Respekt entgegenbrachten. So neigten auch jetzt die meisten Juden dazu, die verschiedenen Gräueltaten, von denen sie hörten, nur als unvermeidbare Ausschreitungen einzelner Frontsoldaten auszulegen, und hofften im Übrigen, der humanitären Gesinnung des deutschen Volkes vertrauen zu können, die sich zeigen musste, sobald die Frontsoldaten abgezogen waren.
Nach einem Aufenthalt von zwei Wochen beschloss auch meine Familie, wieder in die Heimatstadt zurückzukehren. Auf dem Rückweg begegneten uns unaufhörlich Einheiten aller Waffengattungen der deutschen Wehrmacht, die nach Osten marschierten. Doch man hinderte und belästigte uns nicht auf dem Heimweg. Als wir schließlich wieder zu Hause eintrafen, verkündeten uns große Plakate, dass alle Juden männlichen Geschlechts ab dem 14. Lebensjahr sich in der großen Textilfabrik einzufinden hätten. Da dieser Befehl jedoch schon eine Woche alt war, befolgten wir ihn nicht. Die Juden, die bereits in den großen Fabrikhallen interniert waren, wurden noch weitere zehn Tage festgehalten und schließlich wieder entlassen.
Der Feldzug gegen Polen ging schnell zu Ende. Die Besatzungsmacht bemühte sich zunächst, das tägliche Leben wieder in Gang zu bringen. Doch einige Einschränkungen für Juden waren in Kraft, so das Verbot, die Wohnungen nachts zu verlassen, Gottesdienst oder Versammlungen anderer Art abzuhalten. Die Synagoge wurde gesperrt und die jüdischen Schüler von den Schulen, in denen wieder normaler Unterrichtsbetrieb herrschte, ausgeschlossen. Immer häufiger und rücksichtsloser wurden wir bei Arbeiten aller Art eingesetzt. So zwang man die Männer besonders am Schabbat und an den jüdischen Feiertagen zur Arbeit. Mit vielen anderen holte man eines Tages auch mich an unserem größten Feiertag, dem Versöhnungstag, damit ich beim Abladen von Kohlen am Bahnhof mithelfe. An diesem Tag, der für uns ein strenger Fasttag ist, trieb man uns in die Waggons, die von je zwei jungen Wehrmachtsangehörigen bewacht waren. Der Kohlenstaub brannte uns in den Augen und trocknete uns den Mund aus, aber man erlaubte uns nicht, die Waggons zu verlassen, um etwas zu trinken. Einer der jungen Soldaten war gutmütig und erlaubte uns, Ruhepausen einzulegen, da uns die Hände, die an die schwere Arbeit nicht gewöhnt waren, vom Schaufeln brannten. Erschien aber sein strenger Begleiter, so passte er sein Verhalten dem seines Vorgesetzten an. Solche Schikanen zeigten uns deutlich unsere Situation. Aber noch wollten wir versuchen auszuwandern. Wir nahmen Verbindungen mit verschiedenen Konsulaten auf und nährten eine Zeitlang Hoffnungen, die dann wieder kläglich dahinschwanden. Allgemein gab man sich dem trügerischen Glauben hin, der Krieg könne nur wenige Monate dauern. Sei er aber einmal zu Ende, so gäbe es bestimmt eine Möglichkeit zum Auswandern. Deshalb nahm man auch beherrscht Schikanen und Entrechtung hin und wollte in ihnen nur kriegsbedingte Maßnahmen sehen. Wir glaubten allen Ernstes, der Zwang, für die Besatzungsmacht Arbeit zu leisten, sei das Schlimmste, was uns geschehen könnte, und das sei, wenn nötig, mit Geduld zu ertragen.
Einige Monate nach Beendigung des Polen-Feldzuges hatte man unser Gebiet, Polnisch-Oberschlesien, dem Deutschen Reich eingegliedert. Unsere Stadt mit dem polnischen Namen Zawiercie wurde in »Warthenau« umbenannt. Durch Schikanen wollte man die nichtjüdische polnische Bevölkerung nötigen, sich als Volksdeutsche zu melden. Man spiegelte ihr vor, sie stiege damit zum »Herrenvolk« auf. Aber weite Kreise wehrten sich dagegen, allen voran die Mitglieder der sozialistischen Partei PPS, von denen viele verhaftet wurden, um den Widerstand der Polen zu brechen. Die ersten »Volksdeutschen« waren vor allem polnische Geschäftsleute, die Hitlerbilder und Hakenkreuzfahnen in ihre Auslagen stellten. Gleichzeitig wurden die Juden unter Androhung schwerer Strafen gezwungen, weiße Armbinden mit einem gelben Stern zu tragen, in den das Wort »Jude« eingedruckt war. So wurden wir Gezeichnete, Menschen zweiter Klasse.
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