Gendarmerie, Polizei und Gestapo hatten bereits ein Spalier gebildet, mit Gewehrkolben und Knüppeln schlugen sie von rechts und links auf uns ein und trieben uns hindurch. Blutend und stöhnend erreichten wir die Fabrikhalle. Auch der Weg ins Innere der Halle war blutgetränkt, und in allen Ecken lagen Verwundete herum. Älteren Männern wurde der Bart ausgerissen, mit Stiefeln trat man ihnen in die blutigen Gesichter.
In all diesem Jammer fand ich auch meinen Vater wieder. Schweigend legte er mir die Hand auf die Schulter. Eine gemeinsame Trauer erstickte uns die Worte in der Kehle. Beide mussten wir an das Gleiche denken – an unsere Familie, die ohne Schutz und Hilfe zurückgeblieben war.
Mein Vater, der sich mit einigen anderen Bekannten in einem Nachbarhaus versteckt hatte, war schließlich auch entdeckt worden. Gestapo und Polizei waren dazu übergegangen, Speicherund Kellerräume mit Spürhunden zu durchsuchen und auszuheben. Einige seiner Freunde waren dabei so zusammengeschlagen worden, dass sie ihren Wunden erlagen; andere waren in ihren Verstecken erschossen worden.
Gegen Mittag war die Fabrikhalle überfüllt. Über tausend Männer verschiedenen Alters waren nun versammelt. Schließlich erschien der Gestapochef Knoll, der Leiter des Arbeitseinsatzes in Ostoberschlesien, begleitet von Gestapochef Lindner, mehreren Offizieren und einigen Leuten aus dem Judenrat 1.
Die Leute vom Judenrat bestimmten einige Ordnungsmänner, die sie aus der Menge herausholten, und brachten schließlich zwei Ärzte mit, die den Verwundeten flüchtig einen Verband anlegten und sie von den Gesunden absonderten. Mit Hilfe der Ordnungsmänner mussten die Ärzte nun 500 der kräftigsten Männer aus unseren Reihen auswählen. Wir mussten uns ausziehen und hintereinander an dem Arzt, der von der Gestapo flankiert war, vorbeimarschieren. Der Arzt entschied über die Tauglichkeit und stellte die Gruppe der Gesunden zusammen. Plötzlich hieß es: »Ruhe!« Nun erklomm der Gestapoführer Knoll einen Tisch und hielt eine drastische Ansprache, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ. »Eure Zeit ist sowieso vorbei«, sagte er. »Wer sich freiwillig meldet, kommt weg zur Arbeit, wird dort gut behandelt und kann dann nach einiger Zeit wieder zu seiner Familie zurückkehren. Er wird den nichtjüdischen Arbeitern gleichgestellt werden.«
Entsetzt vom Anblick der Verwundeten und Erschossenen, sagte ich zu meinem Vater, ich wolle mich freiwillig zum Arbeitseinsatz melden; er aber solle sich um seine Freilassung bemühen, um bei der Familie bleiben zu können. Insgesamt meldeten sich 150 junge Männer freiwillig. Als die Meldungen abgeschlossen waren, wurden wir aus der Halle hinausgeführt und in Omnibusse verfrachtet. Nun erst sahen wir die riesige Menge von Frauen und Kindern vor dem Fabriktor. Alle hielten sie bangend nach Männern, Söhnen oder Vätern Ausschau. Auf der Suche nach meinen eigenen Angehörigen sah ich endlich meine kleine Schwester Noemi, damals ein dreizehnjähriges Mädchen. Verzweifelt lief sie von Bus zu Bus, um einen von uns zu entdecken. Schließlich bemerkte sie mich, aber es wurde uns untersagt, die Fenster herunterzulassen. Auch durfte niemand den Bus betreten. Stumm sahen wir uns durch das Fenster an; wir hatten beide das Gefühl, dass das Schicksal etwas Schreckliches mit uns vorhatte. Diese Blicke waren das Letzte, was ich von meiner kleinen Schwester mitnahm.
Nach mehrstündiger Fahrt erreichten wir nachts ein hinter einem Wald gelegenes Gelände, auf dem einige halbfertige Baracken standen, unsere Behausung für die nun kommenden Wochen. Einige von uns wurden gleich zum Strohholen abkommandiert. Als sie zurückkamen, erzählten sie, das ganze Gelände werde von bewaffneten Posten in SA-Uniform bewacht.
Als wir die Baracken betraten, starrten uns leere Wände entgegen. Beleuchtung gab es nicht. Das Stroh wurde auf dem Boden verteilt und uns befohlen, uns hinzulegen und Ruhe zu bewahren. Lange lagen wir wach und versuchten, die Ereignisse der letzten 24 Stunden in unserem verwirrten Gedächtnis zu ordnen. Wie Traumvisionen zogen die grausigen Bilder an unserem inneren Auge vorbei. Noch begriffen wir nicht ganz, dass man uns endgültig aus unseren Familien und Heimen gerissen hatte, dass es für uns keine Rückkehr gab. Wir konnten und wollten es nicht fassen, dass all das wirklich geworden war, was wir bisher nur vom Lesen und Hörensagen gewusst hatten. In unseren Ohren gellte noch das Geschrei, mit dem das Inferno begann: Juden raus! Alle Männer raus! Auf unschuldige, ahnungslose Menschen hatte man mit Gewehrkolben eingeschlagen, hatte die blutigen Gesichter alter Männer zertreten, hatte ihnen Fetzen der Gesichtshaut mitsamt dem Bart ausgerissen. Es waren Bilder, die sich dem Gedächtnis für immer eingruben, Bilder, die jetzt, in der Gefangenschaft, immer wiederkehrten und uns quälten und peinigten.
Trotz all dieser Erlebnisse wollten wir die Hoffnung auf ein Weiterleben nicht aufgeben. Hatte uns die Gestapo nicht versprochen, wir würden als freiwillige Arbeiter gut behandelt werden?
Mit der Ungewissheit im Herzen, was wohl meinem Vater zugestoßen sein mochte, mit dem Gedanken an eine kummervolle Mutter, mit der Sorge um meine übrigen Geschwister fiel ich schließlich in einen unruhigen Schlaf. Morgens wurden wir durch Pfiffe geweckt, und der Schrei: »Aufstehen! Auf den Appellplatz hinaus!« ließ uns erschreckt hochfahren.
Sogenannte Kolonnenälteste wiesen uns an, wie wir uns aufzustellen hatten, während sich uns gegenüber eine Gruppe von über 100 Jugendlichen wie von selbst in Reih und Glied ordnete. Sie zählten militärisch ab und marschierten dann zum Lager hinaus, flankiert von SA-Leuten mit aufgepflanztem Gewehr. Nun kam eine Anzahl jüdischer Ordnungsmänner auf uns zu und erklärte uns das Antreten, Abzählen und Abmarschieren. Es waren Häftlinge, die schon einige Monate vor uns in das Lager eingewiesen worden waren, das Lager teilweise aufgebaut und auch die Verwaltungsposten übernommen hatten. An der Spitze der Lagerverwaltung stand ein von der SA bestimmter Judenältester, der sich seine Block- und Kolonnenältesten selbst gewählt hatte. Diesen Ältesten waren die Lagerinsassen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Je nach Sympathie oder Antipathie wurden die einzelnen Häftlinge zu leichteren oder schwereren, angenehmen oder schmutzigen Arbeiten eingeteilt. Diese Funktionäre führten die Neuankömmlinge (unsere Gruppe bestand aus mehreren hundert Leuten) nun in die Disziplin des Zwangsarbeitslagers Grünheide ein.
Nachdem wir belehrt worden waren, wie wir zu marschieren, uns aufzustellen und abzuzählen hatten, wurden wir auf die Baracken und Stuben verteilt. Plötzlich kam ein Häftling aus meiner Heimatstadt auf mich zu und sagte: »Dein Vater steht da hinten.« Schnell versuchte ich, in der Kolonne einige Reihen weiter nach hinten zu gelangen, um meinem Vater näherzukommen. Schließlich stand ich vor ihm. Mein Vater erzählte mir, dass nach unserem Abtransport die zurückgebliebenen Männer, die unter Aufsicht der SS von einem jüdischen Arzt als arbeitsfähig befunden worden waren, auf Lastautos geladen und in der Nacht nach hier gebracht worden waren. So waren auf einmal Freiwillige und Unfreiwillige im gemeinsamen Arbeitslager versammelt.
Dann gab man uns Schaufeln, Spaten und Kreuzhacken in die Hand und teilte uns in Gruppen ein, die im Umkreis des Lagers zur Arbeit eingesetzt wurden. Andere wieder mussten beim Ausbau der Baracken helfen, in denen wir nachher hausen sollten. Um diese Jahreszeit – es war Ende März – war es noch bitter kalt. Für die Arbeiten nicht ausgerüstet – wir trugen dieselbe Kleidung, in der man uns überraschend aus unseren Wohnungen geholt hatte – hoben wir in der Morgendämmerung einen Graben um das Lager herum aus. Manche konnten ihre Ungeschicklichkeit nur schlecht verbergen. In dunklen Anzügen, ungelenk den Spaten in der Hand haltend, mit hochgekrempelten Hosenbeinen und hochgezogenen Socken, gaben sie wider Willen ein groteskes Bild ab. Die wachhabenden SA-Männer sparten denn auch nicht mit ihrem Spott und beschimpften uns als Faulenzer. Ein SA-Mann schrie uns an: »Ihr Faulenzer! Ihr Judenschweine! Nicht einmal einen Spaten könnt ihr in der Hand halten!« Die meisten von uns hatten nie in ihrem Leben solche Arbeit gemacht, da sie zumeist geistige Berufe ausgeübt hatten. Es war nur allzu leicht, uns jetzt zu Karikaturen herabzuwürdigen, zu minderwertigen Menschen zu stempeln, die zu nichts taugten.
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