„Schal … Schal“, murmelte Sarah vor sich hin und streifte durch die Reihen. Jacken, Hüte, Mäntel, Handschuhe ... Wo waren hier bitte die Schals?
„Schals?“, rief Sarah plötzlich laut aus, als würde sie nach ihrem Hund suchen.
„Entschuldigung, kann ich dir behilflich sein?“
„Schals“, sagte Sarah einfach wieder, denn in ihrem Kopf suchte sie schon nach einem Geschenk für ihre Eltern und ihren Opa. Außerdem, und das kam dazu, lief ihr so langsam die Zeit davon. Um zwölf Uhr schloss das Center und es gab Mittagessen.
„Was möchtest du denn für einen Schal?“
„Egal. Günstig.“
Die Dame zog die Augenbraue fast bis zu ihrem Haaransatz empor, so, als ob der Begriff „günstig“ unausstehlich und völlig unpassend für diesen Laden wäre.
„Hier haben wir ein Kaschmir-Exemplar, direkt importiert aus ...“
„Wie teuer?“
„Vierundsechszig Euro neunzig.“
„Fünfundsechszig Euro?“
„Nein, vierundsechszig Euro neunzig.“
„Ich sprach von günstig“, flötete Sarah sichtlich genervt.
Die Verkäuferin verzog ihr Gesicht zu einem hämischen Grinsen. „Ich habe dir den günstigsten Schal gezeigt.“
Leise fluchend verließ Sarah den Laden – ohne Schal, versteht sich. Ein Blick auf die Uhr offenbarte zudem, dass sie noch genau eine Stunde Zeit hatte, bevor es Mittagessen gab und die Läden schlossen. „Geschenke, verdammt, ich brauche was! Irgendwas!“
Vielleicht kamen ihr ja Ideen, wenn sie einfach durch das Kaufhaus ging und ihren Blick schweifen ließ. Doch zu dem Schweifen kam es nicht. Es machte einmal laut rums und Sarah landete auf dem Boden. Mit dem Kerl von eben auf ihr.
„Du?“, hörte sie ihre Stimme und seine zeitgleich. Sofort rappelte er sich hoch, während Sarah völlig irritiert ihr Dies-ist-keine-Lovestory-aus-Hollywood-Mantra aufsagte. Keine Zeit für auch nur irgendwelche kleinen romantischen Gedanken.
„Tut mir leid, ich hab anscheinend nicht aufgepasst“, setzte der Kerl an.
„Ach, du, kein Problem. Alles gut, mir ist nichts passiert.“ Sarah rappelte sich auf und hatte bereits auf der Stelle kehrt gemacht, da hielt er sie am Arm fest.
„Darf ich dich auf einen Kaffee einladen?“
Ganz kurz: Ein Kerl mit meeresblauen Augen, halblangen blonden Haaren, einem verdammt guten Stil und unglaublich toller (und männlicher!) Ausstrahlung empfiehlt dir eine CD, rempelt dich an und lädt dich auf einen Kaffee ein. Und was machst du?
„Tut mir leid, ich habe keine Zeit. Geschenke kaufen.“
„Aber ich möchte wirklich meine Dummheit wiedergutmachen.“
„Ist kein Problem, belassen wir es dabei, okay?“
Was tat man nicht alles dafür, um seiner Familie ein wenig Freude zu bereiten? Man ließ den besten Märchenprinzen einfach links liegen und machte sich auf die Suche nach irgendwas, was man unter den Baum legen konnte.
„Wie wäre es, wenn ich dir beim Einkaufen helfe?“
„Was?“
„Na, es sieht so aus, als hättest du bisher nur ein Geschenk. Und das habe ich dir auch noch ausgesucht.“
„Aber du kennst meine Familie nicht.“
„Du anscheinend aber auch nicht. Ich bin übrigens Fabian.“
„Hi, ich bin Sarah“, die leider keine Zeit für Smalltalk hat, weil sie in circa zwanzig Minuten alle Geschenke haben muss.
„Für wen brauchst du denn noch was?“
„Für meine Mutter, Vater und Großeltern.“
Ein Lächeln huschte über Fabians Gesicht. „Na dann wollen wir mal.“
Sechs Stunden später saß Sarah gemeinsam mit ihren Eltern unterm Weihnachtsbaum. Handgeschnitzte Engel, Lametta in gold und rot sowie bunte Kugeln sorgten für das richtige Weihnachtsfeeling.
„Ich habe auch was für euch“, begann Sarah und griff nach den Geschenken, die sie für ihre Familie eingepackt hatte.
„Für dich.“
„Geil!“, schrie ihr Bruder, als er das neue Album in den Händen hielt.
„Für die beste Mama der Welt.“
„Oh nein, Kind! Vom Winde verweht auf DVD! Ich hab den Film so ewig nicht mehr gesehen!“
„Für Papa.“
„Danke, Liebes. Ein Weizenbierglas kann man immer gebrauchen.“
„Und für euch.“
„Nein wie nett. Ein Gutschein über einen Großeltern-Tag. Wie toll.“
Wäre dies hier ein Hollywood-Film, da war sich Sarah sicher, würde sie jetzt fröhlich und glücklich in die Kamera lächeln und einen Satz sagen wie: „Und ich habe auch mein Weihnachtsgeschenk bekommen. Fabian. Und wir lebten glücklich bis ans Ende unserer Tage.“
Doch da dies nun mal das wahre Leben war, konnte sie nur festhalten, dass sie immerhin seine Handynummer hatte – und aufeinander waren sie immerhin auch schon einmal gefallen.
Alexander Karl, Jahrgang 1989, studiert in Tübingen Medienwissenschaft und Geschichte. Er schreibt gerne Kurzgeschichten und Bücher, macht Sport und unternimmt etwas mit seinen Freunden. Neben bisherigen Kurzgeschichten in Anthologien wird im Frühjahr 2012 sein erster Jugendroman im Papierfresserchens Verlag veröffentlicht.
*
Draußen ist es bitterkalt. Maria steht am Fenster und blickt auf die winterliche Landschaft. Schnee fällt sacht auf die Erde. Dieser Anblick weckt in Maria die ersten weihnachtlichen Gefühle des Jahres. Sie freut sich auf das Fest und beginnt zu planen, wie sie das Haus in diesem Jahr dekorieren will.
Einen Moment verweilt Maria am Fenster, dann dreht sie sich um, um die Kartons mit dem Weihnachtsschmuck vom Dachboden zu holen. Das Dekorieren bringt ihr viel Freude. Nach und nach nimmt sie die kleinen Schmuckstücke aus den Kisten und wickelt sie vorsichtig aus. Jedes einzelne von ihnen ist mit Erinnerungen verbunden. Diesen Schneemann zum Beispiel, den mit der schiefen Nase und geringeltem Schal, hat Sven ihr geschenkt, als sie frisch verheiratet waren. Bei den Sachen sind welche, die Maria seit ihrer Kindheit begleiten. Die haben schon im Wohnzimmer der Eltern gestanden, als Maria klein war. Da gibt es ein Christkind. Es trägt einen rosafarbenen Mantel mit einer Kapuze und zieht einen Schlitten, auf diesem befindet sich ein Kerzenhalter. Dieser Weihnachtsschmuck bekommt jedes Jahr einen Ehrenplatz. Maria hat das Christkind bereits als kleines Mädchen geliebt.
Als Nächstes kommt der Karton mit den Spieluhren an die Reihe. Maria mag diese sehr. Allerdings hat sie keine die „Stille Nacht“ spielt. Aus irgendeinem Grund, Maria kann nicht sagen warum, gefällt ihr dieses beliebte Weihnachtslied nicht. Sie kauft ihre Spieluhren nicht nur nach Aussehen, sondern achtet ebenso darauf, welche Melodie sie spielt. Sie hat eine richtige Sammlung. Die Melodien reichen von „Oh Tannenbaum“ über „Jingle Bells“ und „Am Weihnachtsbaum“ bis hin zu „Santa Claus is coming to town“. Wie in jedem Jahr stellt Maria die Spieluhren erst auf, nachdem sie sich die Lieder angehört hat. Das gehört zum Dekorieren. Die Stimmung wird so noch weihnachtlicher. Maria weiß, sie wird die Melodien heute noch einmal hören. Wenn ihre Kinder aus der Schule kommen und sehen, dass Mama dekoriert hat, werden sie die Spieluhren erklingen lassen wollen. Maria freut sich jedes Mal, wenn sie die leuchtenden Augen der beiden sieht. Ihre Tochter und ihr Sohn lieben die Weihnachtszeit genauso wie Maria. Auch Sven lässt sich gerne von der Stimmung im Haus anstecken.
Als alles an seinem Platz steht, betrachtet Maria in Ruhe ihr Werk. Ein Blick auf die Uhr sagt ihr, dass es Zeit ist, das Mittagessen fertig zu machen. Schnell räumt sie die Kartons zusammen und bringt sie auf den Dachboden.
Kurze Zeit später stehen Mia und Michel vor der Tür. Sie sind aufgeregt, weil es noch schneit. Am liebsten würden sie sofort ihre Schlitten rausholen. Vorher müssen sie essen und Hausaufgaben machen. Als Mia nach den Essen einen Blick ins Wohnzimmer wirft, entdeckt sie, dass ihre Mutter die Weihnachtsdekoration aufgestellt hat. Sie läuft hinein. Michel kommt kurz nach ihr in den Raum. Die Kinder sehen sich alles an. Jedes hat seine Lieblingssachen und guckt, ob alles da ist. Und, wie Maria es erwartet hat, fragen beide: „Dürfen wir die Spieluhren aufziehen?“
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