„Wir müssen weiter, Kumpel“, sagte der Elch. „Das Tollste wartet nämlich noch auf uns.“
Fynn konnte es kaum erwarten, was der Elch ihm noch zeigen wollte. Die beiden kletterten einen Hang hinauf. Oben angekommen glitzerte ein zugefrorener See im Mondschein.
Der Elch hielt sich einen Huf vor den Mund und flüsterte: „Du musst hier ganz leise sein, dann kannst du ein wunderschönes Schauspiel genießen.“
Mucksmäuschenstill blieb Fynn stehen und spitzte die Ohren. Plötzlich entdeckte er winzige Elfen, die auf dem Eis tanzten. Mit ihren silbrig glänzenden Flügeln zogen sie Wolken aus funkelndem Elfenstaub hinter sich her.
„Komm weiter, Kumpel. Wir haben nur noch ein kleines Wegstück vor uns, bis wir am Ziel sind.“
„An welchem Ziel?“, fragte Fynn erstaunt.
„Warte es ab“, grinste der Elch vergnügt.
Es dauerte nicht lange, bis Fynn und der Elch zu einer Anhöhe kamen. Unter ihnen erstreckte sich ein weites Tal. In jedem Winkel glitzerte und leuchtete es. Am Fuß eines Hügels standen mehrere Hütten, aus deren Schornsteinen Rauch aufstieg. In der Mitte des kleinen Dorfes sah Fynn ein Schloss, dessen Wände, Dächer und Fenster glänzten, als wären sie aus Eis.
„Wir sind am Ziel, Kumpel.“ Der Elch legte Fynn einen Huf um die Schultern. „Vor uns liegt das wunderbare und zauberhafte Weihnachtstal! Hier wohnt der Weihnachtsmann!“
„Du willst mich auf den Arm nehmen.“ Fynn runzelte die Stirn.
„Glaub es oder lass es bleiben. Aber so ist es. In dem Eispalast wohnt er und in den Hütten arbeiten die Weihnachtselfen.“ Der Elch betrat einen Weg, der sich hinunter ins Tal wand.
„Merkwürdiger Traum“, murmelte Fynn und folgte dem Elch.
Vor der Eingangstür des Eispalastes blieb der Elch stehen und klopfte an. Wie von selbst öffnete sich das glitzernde Tor. In einer riesigen Halle aus Eis und Glas stand ein kleiner Mann in einem rot-weißen Mantel, der einen dicken Kugelbauch vor sich herschob.
„Herzlich willkommen im Weihnachtstal, lieber Fynn“, sagte der Mann und legte einen Arm um Fynns Schulter. „Du hast also eines der magischen Tore gefunden, das in unser zauberhaftes Weihnachtsland führt? Du hättest wohl nie gedacht, dass wir beide uns mal begegnen, oder?“
Fynn starrte auf den Mann mit den roten Pausbacken und dem Rauschebart. „Bist du wirklich der Weihnachtsmann?“, fragte Fynn ungläubig.
Der rundliche Mann nickte vergnügt: „Ich weiß, dass du schon lange nicht mehr an mich glaubst. So, wie die meisten Menschen. Das ändert aber nichts daran, dass es mich und diesen wunderbaren Ort gibt, an dem Träume Wirklichkeit werden.“
Fynn sah sich neugierig im Eispalast um, ihm kam alles so unwirklich vor.
„Da fällt mir ein ...“, sagte Fynn. „Ich habe einen Brief für dich.“ Fynn kramte in seiner Jackentasche und zog den Umschlag heraus, den seine kleine Schwester ihm gegeben hatte.
„Vielen Dank, Fynn. Ich würde mich aber auch freuen, wenn du mir in Zukunft wieder schreiben würdest“, sagte der Weihnachtsmann.
Verlegen sah Fynn auf den Boden. „Das mache ich ganz bestimmt!“
Der Weihnachtsmann führte Fynn nach draußen.
„Es wird Zeit, Abschied zu nehmen. Der Elch mit dem rot-weiß gestreiften Schal bringt dich nach Hause. Vielleicht sehen wir uns mal wieder und ansonsten kannst du mir jederzeit schreiben.“ Der Weihnachtsmann lächelte Fynn an und Fynn lächelte zurück.
„Dann los, Kumpel. Steig auf!“, rief der Elch und nahm Anlauf. Mit einem lauten „Juhuu!“ hob er vom Boden ab und flog mit Fynn über das Weihnachtsland.
Pünktlich klingelte der Wecker. Fynn gähnte: „Was für ein Traum!“ Dann ging er ins Badezimmer. Vor dem Spiegel blieb er wie angewurzelt stehen. Er hatte einen rot-weiß gestreiften Schal um den Hals gewickelt! An dem Schal hing eine Geschenkkarte: „Eine kleine Erinnerung an deine Reise ins Weihnachtsland. Bis bald, Kumpel!“
Patrick Grasser wurde 1981 in Nürnberg geboren. Er studierte Religionspädagogik und kirchliche Bildungsarbeit. Seit seinem Studienabschluss arbeitet er als Religionslehrer an Grund-, Mittel- und Förderschulen. Nebenbei veröffentlicht er Materialien und Fachbücher für den Religionsunterricht. In seiner Freizeit schreibt er Geschichten und Erzählungen für Kinder und Jugendliche. Er ist Mitglied im Bundesverband junger Autoren und Autorinnen e.V. und im Montségur Autorenforum. Patrick Grasser lebt mit seiner Frau in Nürnberg.
*
Wie Knecht Ruprecht zum Nikolaus kam
Es geschah vor langer, langer Zeit. Die Turmuhr schlug soeben Zwölf. Martin lag in seinem warmen Bett und draußen saß die kalte Nacht. Plötzlich erwachte er schweißgebadet. Ein schlimmer Traum hatte ihn geweckt: Er träumte, der Nikolaus, der diese Nacht kommen sollte, wäre an seinem Haus vorbei gefahren.
Wenn das stimmte, würde er kein Geschenk bekommen! Er hatte sich so darauf gefreut. Das ganze Jahr war er fleißig gewesen. Er hatte seiner Mutter bei der Hausarbeit geholfen und auch nicht geweint, wenn sie abends arbeiten ging und er allein bleiben musste. Dafür hatte Mama ihm versprochen, dass der Nikolaus ihm ein schönes Geschenk bringt.
Martin wischte sich den Schweiß von der Stirn, schlüpfte aus seinem Bett, öffnete das Fenster und spähte in die verschneiten Gassen. Vom Nikolaus war weit und breit nichts zu sehen. Im Glauben, dass der Traum ein Fingerzeig war, und er den Nikolaus einen Hinweis geben musste, dass er hier wohnt, lief er in die Küche, nahm einige duftende Plätzchen, die er heute mit Mama gebacken hatte, und legte sie auf den Fenstersims. Nun konnte nichts mehr schief gehen. Der Duft der Plätzchen würde dem Nikolaus schon den Weg zu ihm weisen.
Martin kroch zurück in die warmen Federn und schloss beruhigt die Augen. In dem Moment, als er wieder in seine Träume versank, schlich eine dunkle Gestalt durch die stillen Gassen. Sie huschte verborgen unter einem schwarzen Umhang und mit rußgeschwärztem Gesicht von Fenster zu Fenster. Es war Ruprecht, ein Landstreicher, der im Schatten der Dunkelheit alle Plätzchen, die die Kinder für den Nikolaus auf die Fensterbank gelegt hatten, wegnahm, und sie gierig in den Mund stopfte. Anschließend eilte er mit einem hinterhältigen Grinsen in die nächste Gasse. Heute wollte er sich mal so richtig satt essen und diese Nacht war eine günstige Gelegenheit. Da er wusste, dass der Weihnachtsmann nur Kindern etwas brachte und er nichts bekommen würde, plante er, dem Nikolaus den Sack mit den Geschenken zu stehlen.
Ruprecht hatte sich den Reiseweg, den der Weihnachtsmann mit den Rentieren im vorigen Jahr genommen hatte, gut gemerkt. Er schaute auf die Turmuhr. Die Uhr sagte ihm, dass er nicht länger warten brauchte, und so machte er sich auf den Weg. Er schlich leise wie eine Katze aus dem Ort und lief durch den verschneiten Wald zu den drei Eichen. Hier wollte er dem Nikolaus mit seinem Gespann auflauern. Bei den drei Eichen spähte er im Schutz der Bäume nach rechts und links, zog einen Draht aus dem Umhang und spannte ihn über den Weg. Danach verwischte er mit etwas Gestrüpp alle Spuren und versteckte sich hinter den Büschen.
Es dauerte nicht lange, da hörte er herannahendes Glöckchengeläut. Der Nikolaus war ihm Anmarsch! Die Kommandorufe „ho, ho, hoo“ waren weithin zu hören. Ruprecht grinste, sog tief die Luft ein und machte sich startklar. Eine Minute später preschten die Rentiere heran. Ihre Beine verfingen sich im Draht. Sie strauchelten, verloren den Halt unter ihren Füssen und stürzten. Der Schlitten kippte um und schleuderte den Nikolaus aus den Wagen. Der Weihnachtsmann drehte einen Salto, verfehlte knapp die Eiche und landete kopfüber in einer Schneewehe. Sein Körper bohrte sich tief in den Schnee, sodass nur noch seine schwarzen Stiefel zu sehen waren.
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