Der Wecker klingelte am Sonntagmorgen schon um sieben Uhr, denn Malu hatte heute Vormittag Dienst am Empfangstresen. Mühsam quälte sie sich aus dem Bett. Sie fühlte sich nicht gerade ausgeruht, sondern vielmehr als wäre sie einen Marathon gelaufen. Sofort fielen ihr diese schrecklichen Schreie von der Insel wieder ein. Wirklich gruselig! Sie verspürte plötzlich das dringende Bedürfnis nach Papilopulus, Schneechen und den anderen zu sehen.
Wenn sie sich beeilte, konnte sie vielleicht noch einen kleinen Abstecher zu ihren Pferden machen, bevor sie die Empfangsdame spielen musste. In Windeseile putzte sie sich die Zähne, zog Jeans und T-Shirt über und flitzte die Treppe herunter.
Als sie in ihre Wohnküche kam und den kritischen Blick ihrer Mutter sah, war klar, dass irgendetwas nicht stimmte.
»Du weißt schon, dass du heute Morgen den Empfang übernehmen sollst, oder?«, fragte ihre Mutter. »Ich muss ja gleich weg.« Rebekka hätte die Gäste lieber selbst begrüßt, aber sie hatte Gesine versprochen, sie auf eine Beerdigung zu begleiten. So mussten Malu und Edgar heute Vormittag alleine zurechtkommen.
»Woher sollte ich das wissen, du hast es mir ja erst zwanzigmal gesagt.« Malu griff nach einem Brötchen und schnitt es auf.
»Aber doch nicht so!« Ihre Mutter betrachtete missbilligend Malus Outfit.
»Was ist denn an Jeans und T-Shirt auszusetzen? Ich laufe doch immer so rum«, sagte Malu mit einem leicht genervten Unterton. »Oder hast du vielleicht auch noch eine Uniform für mich?!«
»Keine schlechte Idee«, überlegte Rebekka. »Aber fürs Erste reicht eine saubere Hose und eine Bluse. Die findest du bestimmt noch irgendwo in deinem Schrank.«
Malu nickte ergeben und biss in ihr Brötchen.
»Hast du auch diese schrecklichen Geräusche heute Nacht von der Insel gehört?«, fragte sie.
»Was für Geräusche?« Rebekka schüttelte den Kopf.
In diesem Moment kam Edgar in die Küche. »Malu hat schlecht geträumt«, sagte er und plumpste vor ihr auf den Stuhl.
»Kein Wunder bei der Hitze.« Rebekka öffnete die Spülmaschine und begann das saubere Geschirr auszuräumen. »Es hat sich ja kaum abgekühlt heute Nacht.«
Malu merkte, wie sich ein dicker, heißer Klumpen Wut in ihrem Magen bildete. »Ich habe nicht geträumt! Es war echt gruselig. Vielleicht hat jemand den Pferden auf der Insel etwas angetan!« Ihre Stimme überschlug sich. »Aber hier interessiert ja niemanden mehr etwas, außer das blöde Hotel!«
Rebekka sah ihre Tochter entgeistert an. »Jetzt ist aber Schluss, Malu. Wenn Pferde irgendwo in Sicherheit sind, dann ja wohl auf der Insel. Außerdem sind noch zwei Männer zur Aufsicht mit dort. Vielleicht hast du das ja wirklich geträumt.«
»Hab ich nicht!«, zischte Malu. »Ich finde, du solltest es dieser Frau Horapez sagen, dann könnte sie wenigstens mal nachsehen, ob es ihren Pferden gut geht. Ich würde auch mitfahren«, fügte sie nach einer kurzen Pause hinzu.
»Das glaube ich dir gerne«, lachte ihre Mutter. »Aber du hast heute Vormittag etwas anderes zu tun und Señora Horapez sollten wir mit diesen Gespenstergeschichten nicht belästigen.«
»Pedro hat mir erzählt, dass in zwei Tagen noch mehr Pferde zur Insel gebracht werden und zwar nachts! Ich glaube, die Señora hat Angst davor ausspioniert zu werden«, sagte Edgar und schüttete sich eine Riesenportion Müsli in die Schüssel. »Die kommen direkt von diesem Gestüt in Jordanien. Megawertvolle Tiere. Wenn die so schön sind, wie die schwarze Stute, die Señora Horapez bei uns im Stall hat ...« Ihr Bruder pfiff leise durch die Zähne.
»Ich finde dieses ganze Getue, dass niemand die Pferde sehen darf, ziemlich albern«, erklärte Malu. »Was soll das überhaupt? Man kann denen ja nichts weggucken. Warum versteckt sie die auf der Insel?«
Ihr Bruder sah sie so begeistert an, als würden die Pferde ihm gehören. »Señora Horapez will mit den Arabern auf der Insel Rennpferde züchten und es sollen die schönsten und schnellsten Fohlen der Welt werden. Wahrscheinlich geht es da einfach um wahnsinnig viel Geld und niemand soll sehen, mit welchen Pferden sie züchtet.«
»Trotzdem albern. Aber diese Geräusche von der Insel, die waren nicht albern, sondern einfach schrecklich!«
»Vielleicht hast du auch eine Eule gehört, deren Schreie klingen auch ganz schön gruselig«, sagte Rebekka bestimmt und damit war das Thema für sie endgültig beendet.
Eine Stunde später stand Malu hinter dem Empfangs-tresen in der Schlosshalle. Sie hatte tatsächlich noch eine schwarze Bluse in der hintersten Ecke ihres Kleiderschrankes gefunden. Leider hatte die ein grässliches beiges Blumenmuster, aber für einen Tag würde es wohl gehen. Die Bluse hatte sie letztes Jahr zur Beerdigung von Sybill von Funkelfeld getragen. Seitdem war sie zwar gewachsen und die Ärmel waren viel zu kurz, aber die hatte sie kurzerhand hochgekrempelt.
Unglaublich, dass das erst in den letzten Sommerferien gewesen war. Mit dem Tod von Sybill hatte sich ihr Leben komplett umgekrempelt und jetzt stand sie hier am Empfang eines Pferdehotels. Sie seufzte. Eigentlich hatte sie allen Grund zufrieden zu sein. Warum nur war sie in letzter Zeit trotzdem ständig schlecht gelaunt?! Laut Rebekka war das ganz klar: Hormone. (Also konnte sie ja gar nichts dafür!)
Gedankenverloren wischte Malu über die matt schimmernde Holzplatte des Tresens. Dann wanderte ihr Blick hoch zu dem Portrait des alten Barons, das nach der Renovierung wieder in die Halle zurückgekehrt war. Gesine war sich sicher, dass ihr menschenscheuer Vater es nicht gutgeheißen hätte, dass sein Schloss in ein Hotel umgewandelt worden war. Andererseits hatte der Baron keinerlei Vermögen hinterlassen, mit dem der Betrieb des Schlosses aufrechterhalten werden konnte, und ihre Großtante war der Ansicht, dass man neue Wege gehen musste und nicht immer im Alten verharren sollte. Aus ihrer Hosentasche dudelte Musik: HEY GIRL, LET ME KNOW. Schnell zog sie es heraus, um Leas Nachricht zu lesen.
Lea:
Wir fahren gerade los. Wo bist du?
Malu:
Bei der Arbeit. Da kannst du dich gleich nützlich machen 
HEY GIRL, LET ME KNOW - Lea:
Beim Ausmisten bin ich raus!!!! Wenn du nichts anderes für mich zu tun hast, dreh ich gleich wieder um. 
Malu:
Empfangsdame im Hotel?
HEY GIRL, LET ME KNOW - Lea:
Schon eher. Erwartet ihr denn ein paar Promis???
Malu:
Wohl nicht.
HEY GIRL, LET ME KNOW - Lea:
Menno!!! Kein Glitzer, Glamour, Paparazzo??? Nur Stallgeruch? Puh!!! 
Ein Auto fuhr auf den Schlossplatz.
Malu:
Muss Schluss machen. Kundschaft.
Jetzt war Malu doch ein bisschen nervös. Edgar hätte doch auch prima den Empfangschef geben können. Hallo, ich bin Edgar von Funkelfeld, äffte sie ihn lautlos nach. Aber ihr Bruder musste beim Ausladen der Pferde helfen (hätte sie viel lieber gemacht!).
HEY GIRL, LET ME KNOW - Lea:
Wir sind in der Kastanienallee ... 
Malu stellte ihr Handy auf lautlos und schob es unter die erhöhte Holzumrandung, damit es von der Gästeseite aus nicht zu sehen war. Wo blieben die denn nur? Geschäftig sortierte sie Papiere von der einen Seite des Tresens auf die andere.
Leises Surren - Lea:
Ganz schön was los bei euch auf dem Schlossplatz.
Читать дальше