Lisas Überraschung wandelte sich in Begeisterung. Leichtfüßig sprang sie aus dem Bett und eilte über die kalten Bodenbretter zum Fenster. Die Bäume an den Hängen waren mit Puderzucker bestreut, die Wiesen leuchteten ebenfalls in reinstem Weiß und der See war mit einer dünnen Eisschicht überzogen, die aussah wie der Zuckerguss auf einem Kuchen.
Früher im Allgäu hatte Lisa massenhaft Schnee zu sehen bekommen, in Frankreich nur selten. Das, was sich ihr hier zum Bewundern darbot, war nicht gerade eine dichte Schneedecke, aber Lisa hatte dieses wunderschöne und bezaubernde Weiß so lange nicht mehr gesehen, dass es sie regelrecht überwältigte.
Eine Windbö strich nahe am Forsthaus durch die Bäume und wehte einige Flocken herbei. In der strahlenden Sonne und vor den vereinzelten blauen Flecken am Himmel funkelten sie wie Diamanten. Wie Feenstaub, korrigierte Lisa sich, wirbelten die Kristalle doch verspielt durch die Luft. Sie liebte die Geschichte von Peter Pan und seinen verlorenen Jungs, da sie selbst doch auch ein verlorenes Kind voller Sehnsucht nach einer Mutter gewesen war.
Eilig wusch sie sich, froh darüber, dass ihre Schulter und ihr Nacken nur noch einen mäßigen Schmerz aussandten, zog sich Hose und Pullover an und eilte die Stufen hinunter. Die Eingangstür stand offen, also stürmte sie darauf zu, prallte aber nach wenigen Metern gegen jemanden, der gerade aus der Tür zum Anbau in den Flur trat. Die muskulöse Gestalt gehörte eindeutig nicht zu Johann.
„In welche Gefahr wollen Sie sich diesmal stürzen?“, erkundigte sich Robert und klang dabei sehr gelassen. Oder noch müde?
„In keine!“, erwiderte Lisa ein wenig atemlos und drückte sich von ihm weg. Allerdings hatte er es nicht sonderlich eilig, seine Hände, die an ihrer Taille lagen, von ihr zu nehmen.
„Es sah aber so aus, als planten Sie, die Außentreppe hinunterzufallen.“
„Ich hätte schon rechtzeitig angehalten. Ich will doch nur den Schnee sehen. Und anfassen.“ Sie wusste, dass sie wie ein Kind klang, doch das war ihr egal. Aufgeregt trat sie von einem Fuß auf den anderen.
„In Strümpfen?“
„Nein, natürlich nicht.“ Sie sah sich um. Robert hatte recht: Sie war am Schuhregal vorbeigerannt. Prüfend schaute sie zu ihm auf. Sein unrasiertes Gesicht wirkte dunkel, sein Grinsen frech. Und das Blitzen in diesen seeblauen Augen war … aufwühlend. Doch ohne ersichtlichen Grund verfinsterte sich seine Miene und er trat zurück. Dabei schüttelte er über irgendetwas, was sich ihr nicht erschloss, den Kopf und ließ sie stehen.
Lisa verdrängte das seltsame Gefühl, das sie beschlichen hatte, schlüpfte in Charlottes Wanderschuhe und eilte, ohne diese zuzuschnüren, zur Treppe, die bereits von jemandem gefegt worden war. Vorsichtig stapfte sie hinunter auf den mit Kieselsteinen ausgelegten Vorplatz und griff behutsam in die etwa fünf Zentimeter hohe Schneedecke. Auf deren Oberfläche glitzerten einzelne Kristalle im fahlen Sonnenlicht; kleine Kunstwerke, einzigartig in ihrem weißen Kleid.
„Wie wunderschön du bist“, flüsterte sie. Watteweiche Kälte durchströmte ihre Handfläche, Erinnerungen ihre Gedanken, Schmerz ihre Seele. Sie war so glücklich und zugleich so unglücklich gewesen. Sie hatte eine Menge Freunde und fürsorgliche Nachbarn gehabt, aber keine Mutter, die sie liebte. Dabei hatte sie Gerda geliebt, wie wohl jedes Kind seine Mutter liebt. Bis sie in einem ratternden Zug gesessen und, umgeben von wildfremden Menschen, begriffen hatte, dass sie keine Mutter mehr hatte; nie eine gehabt hatte. Und nicht einmal da war ihre Liebe gestorben, aber das Wissen geboren, dass sie nicht geliebt wurde. Weil sie nicht liebenswert war.
Lisa betrachtete ihre nasse Handfläche. Der Schnee war geschmolzen, das Wasser jedoch noch immer da. Camille hatte ihr gesagt, dass Liebe viele Formen annimmt, man einige deutlicher sieht und spürt als andere. Nur weil Gerda selten für sie da gewesen war, kaum einmal gekocht und viele Dinge versäumt hatte, die andere Mütter tun, hieß das nicht, dass sie Lisa nicht geliebt hatte. Lisa war jedoch begierig darauf gewesen, Liebe zu sehen. Sie zu spüren, zu erfahren, zu begreifen. Es hatte sie zutiefst verletzt, weggeschickt zu werden wie ein Haustier, das einem lästig fällt.
Geblieben war ihre Sehnsucht nach Akzeptanz. Nach Zugehörigkeit. Nach Liebe.
Lisa richtete sich auf und wandte sich wieder dem Forsthaus zu. Eingebettet in die bewaldeten Hügel und umschmeichelt vom frisch gefallenen Schnee, stand es beständig und fest an seinem Platz. Es beherbergte eine Familie, die sich herzlich zugetan war, sich umeinander kümmerte, miteinander lachte, weinte, betete, hoffte und sicher auch mal stritt. Genau so, wie es in Lisas Vorstellung sein musste. Aber sie war kein Teil davon. Die Vogels waren nur eine Familie auf Zeit. Das musste sie sich immer wieder sagen, damit sie es ja nicht vergaß. Denn schon nach diesen wenigen Tagen, die sie hier verbracht hatte, war sie dabei, ihr Herz an sie zu verlieren.
Charlotte setzte sich als Letzte an den Tisch und senkte den Kopf. Ihr Mann dankte Gott für die Ruhe in der Nacht, für den Schnee, obwohl der ihm seine heutige Aufgabe erschweren würde, und für ihren Gast. Er bat um Schutz und Segen für sie alle, und kaum dass er mit dem obligatorischen Amen geschlossen hatte, lagen bereits zwei dicke Brotscheiben auf seinem Teller.
Charlotte lachte in sich hinein. Heinrich schien immer am Verhungern zu sein und konnte essen, was er wollte, ohne ein Gramm zuzulegen. Ganz im Gegensatz zu ihr. Aber er beteuerte stets, dass er jedes Gramm an ihr liebe und jetzt eben noch mehr zu lieben habe als in früheren Jahren.
„Wie geht es deinem Rücken, Lisa?“, wandte sich Charlotte an ihren Gast, der an diesem Morgen gedankenversunken wirkte. Ob die junge Frau doch unter stärkeren Schmerzen litt, als sie bereit war zuzugeben?
„Es ist nicht schlimm“, beteuerte Lisa und schenkte ihr ein dankbares Lächeln.
„Es gibt solche Menschen, die von den Bäumen verwarnt, aber nie getroffen werden“, merkte Johann an. Morgens klang seine Stimme noch mehr als sonst wie das Knattern eines alten Automotors. Charlotte, die das lange Zeit irritiert hatte, liebte es inzwischen. Ihr Schwiegervater war ein feiner Mensch, nur manchmal etwas wunderlich, was mit zunehmendem Alter nicht gerade weniger wurde.
„Und es gibt solche, die eine Gefahr nicht einmal dann erkennen, wenn sie auf sie zustürzt“, brummte Robert.
Charlotte beobachtete, wie Lisa das Messer, das sie gerade ergriffen hatte, wieder auf den Tisch legte und Robert mit ihren braunen Augen fixierte. Doch ehe sie etwas sagen konnte, hob er die Hand. „Ich war wegen einheitlicher und für Städter verständlicher Warnhinweise in Vierbrücken. Dort wird man bei der nächsten Sitzung des Dorfrates über den Sicherheitsaspekt sprechen.“
„Demnach gibt es auch Menschen, die durch das, was ihnen widerfahren ist, Verbesserungen erwirken“, konterte Lisa trocken, was Johann ein Grinsen ins Gesicht grub, das mit unzähligen Falten daherkam.
„Das können Sie sich jetzt gern auf die Fahnen schreiben“, brummte Robert.
„Auf rote? Genäht aus Männerhemden?“
„Wer zieht denn rote Hemden an?“, fragte Johann und wirkte nun verwirrt.
„Sträucher an Weggabelungen?“, schlug Lisa vor.
Johann schüttelte den Kopf, und Charlotte gewann allmählich den Eindruck, dass Lisa und Robert einen kleinen Krieg ausfochten. Aber weshalb nur? Immerhin hatte Charlotte ihren Sohn zur Höflichkeit erzogen, er war ihrem Gast gegenüber sicher nicht unverschämt aufgetreten.
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