„Da ist ein Schnitt, gut fünf Zentimeter lang. Aber er ist weder breit noch scheint er sehr tief zu sein. Ich denke nicht, dass man das nähen muss.“
Mehr als ein beipflichtendes Nicken brachte Lisa nicht zustande. Robert hatte eine Hand auf ihren Oberarm gelegt, als wolle er sie stützen. Die dünne Bluse ließ die Wärme, die von ihm ausging, ungehindert zu ihr durch. Mit der anderen Hand strich er ihr behutsam über den Nacken und entfernte damit Rindenreste, Fichtennadeln und weiteren Schmutz.
„Bleiben Sie mal so stehen“, forderte er sie auf, wechselte auf die andere Seite des Fahrzeugs und kramte dort in einer Kiste. Lisa hob leicht den Kopf und spickte an ihren Haaren vorbei. Sie meinte, noch immer seine Berührungen zu spüren, obwohl er jetzt mehrere Meter von ihr entfernt stand. Das war verwirrend. Entsprechend aufgewühlt betrachtete sie seinen gesenkten Kopf mit dem kurzen, dichten Haar, in dem der halbe Wald zu stecken schien. Sie lächelte bei dem Anblick, aber nur so lange, bis ihr bewusst wurde, dass ihr Haar vermutlich wie ein Vogelnest aussah. Sie wollte es glatt streichen, unterließ es jedoch, da ihr selbst die kleinste Bewegung Schmerzen bereitete. Offenbar hatte sie von ihrem Rendezvous mit der Fichte mehr als nur einen Schnitt im Nacken davongetragen.
Robert kam wieder auf ihre Seite des Jeeps herüber. In der Hand hielt er eine dieser bauchigen Feldflaschen, die Wanderer so gern mit sich herumschleppen.
„Ich hoffe, da ist Champagner drin und nicht irgendein billiger Obstler.“
„Ich lebe nicht so dekadent, dass ich Ihnen Champagner über den Nacken schütten würde“, meinte er und tat, was er angedroht hatte. Eiskaltes Wasser perlte über ihre Haut. Sie zuckte zusammen und wollte dem Strahl ausweichen, kam aber nicht weit. Robert hatte sie erneut mit einer Hand am Oberarm gepackt und brauchte dort nur seinen Griff zu verstärken, auf der anderen Seite stellte er ihr einfach seinen breiten Körper in den Weg. Ein zweites Mal kam sie sich vor wie ein Reh. Diesmal aber wie eines, das von Robert in die Enge getrieben worden war. Seltsamerweise empfand sie das nicht unbedingt als etwas Schlechtes.
„So, das hat den gröbsten Schmutz rausgewaschen. Ich hoffe, Sie sind gegen Tetanus geimpft?“
Lisa nickte und verlor sich beinahe in seinen Augen, deren Farbe der des nahe gelegenen Sees glich. Sie sah etwas darin aufleuchten, als würden sich die ersten Sonnenstrahlen ihren Weg durch den morgendlichen Dunst bahnen, der über der Wasseroberfläche hing, doch Robert wandte sich von ihr ab, ehe sie das Phänomen ergründen konnte.
„Steigen Sie bitte ein. Ich fahre Sie hoch zum Forsthaus.“
„Ich wollte an den See“, widersprach sie, vermutlich einfach nur, damit widersprochen war, und weil der dumpfe Schmerz in ihrem Oberkörper immer mehr zunahm.
„Meine Mutter lässt mich vier Nächte lang auf der Terrasse schlafen, wenn ich Sie in diesem Zustand allein zum See hinuntermarschieren lasse.“
„Das glaube ich Ihnen nicht. Ihre Mutter ist eine herzensgute, fürsorgliche und liebe Person.“ Eine Mutter, wie ich sie gern gehabt hätte. Sie vertrieb den Gedanken, der mit zu viel Schmerz einherging.
„Richtig. Und ihre Fürsorge erstreckt sich auch auf ihre Nachbarn da unten am See, auf die in Vierbrücken, offenbar auf Ihre Mutter und damit auch auf Sie. Also rein mit Ihnen.“
„Und auf Sie nicht?“
„Das hat mit der Terrasse nichts zu tun. Zu ‚herzensgut‘, ‚fürsorglich‘ und ‚liebend‘ gesellt sich – was ihre Söhne betrifft – auch eine gewaltige Portion Strenge.“
„Deshalb sind Sie alle so gut geraten?“
Robert, der Lisa die Tür aufhielt, schaute sie einen Moment zu lange an, was an einem Ort tief in ihrem Inneren ein nervöses Flattern hervorrief, ehe er ihr mit einem Nicken bedeutete, dass sie endlich in den Wagen steigen sollte.
„Das sagen Sie mal bitte meiner Mutter. Unbedingt!“
Lisa lachte und verstummte erst, als er sich neben sie setzte und ihr einen bösen Blick zuwarf. Also presste sie die Lippen zusammen, wohl wissend, dass er ihr ihre heimliche Belustigung durchaus ansehen konnte. Aber der Forstmeister starrte nur noch geradeaus, fast so, als habe er Probleme damit, den Geländewagen in der Spur zu halten.
Robert schaute von der Beifahrertür aus zu, wie Lisa langsam auf die Eingangsstufen zuging. Ihre Bewegungen ließen darauf schließen, dass sie unter Schmerzen litt. Vermutlich drangen die allmählich zu ihr durch, nun, da sich der Adrenalinspiegel in ihrem Blut senkte. Da Robert sie in der Obhut seiner Mutter gut aufgehoben wusste, schlug er die Tür zu, ging um den Jeep herum und sprang über den Türholm auf den Sitz. Er hatte zu tun.
Nachdem er den Motor gestartet hatte, warf er einen letzten Blick zur Haustür. Dort stand Lisa und schaute ihn über die Schulter hinweg an. Sie wirkte verloren. Wieder schlich sich das Bild eines Rehkitzes vor sein inneres Auge. Übermütig und neugierig, aber zutiefst verletzlich und … ja, was denn? Einsam? Weil ihm die Mutter fehlte?
Lisa hatte nicht viel erzählt, doch eines war sicher: Sie hatte die vergangenen Jahre bei ihrer Großtante in Frankreich gelebt. Die Tatsache, dass sie nichts von ihrer Schwester gewusst hatte, verdeutlichte, dass sich Mutter und Tochter in den letzten Jahren nicht gesehen, ja vermutlich nicht einmal Briefkontakt gehalten hatten.
Robert zwang sich, die Augen von ihr zu nehmen, und fuhr los. Er musste mit Edmund Schuster sprechen, denn Lisa hatte durchaus recht: Die Einheimischen wussten um die Bedeutung der roten Warnsignale, seien es nun Markierungen an Bäumen, ein rot bemalter, in die Erde gerammter Pflock oder – wie Lisa es genannt hatte – ein ausgedientes Herrenhemd als Baumschmuck. Da nun aber zunehmend mehr Touristen ihr kleines Tal bevölkerten, mussten diese entweder über die Schutzvorkehrungen informiert werden oder es war an der Zeit, einheitliche und für jeden verständliche Warnhinweise anzubringen.
Die Vorstellung, dass einer ihrer Urlaubsgäste unter einen fallenden Baum geraten könnte … Robert atmete tief durch. Lisa hatte unglaubliches Glück gehabt. Oder ein Engel hatte seine schützende Hand über sie gehalten; so wie man es gern annimmt, wenn ein Kind vor großem Unglück bewahrt wird.
Sie ist kein Kind mehr. Dessen war Robert sich sicher, schließlich hatte er sie heute mehr als einmal im Arm gehalten – oder zumindest so etwas in der Art. Bei der Erinnerung an ihren weichen Körper, den Anblick ihres schlanken Halses und die Weichheit ihres samtigen Haares stieg eine aufwühlende Hitze in ihm auf. Es war lange her, seit er zuletzt eine Frau im Arm gehalten hatte, einmal abgesehen von seiner Mutter und seiner Cousine, was beides nicht zählte. Reagierte er deshalb so heftig auf Lisas Anwesenheit?
Gestern Abend hätte er beinahe angeboten, seiner Mutter und Lisa beim Abwasch zu helfen, obwohl in seiner eigenen kleinen Küche noch jede Menge dreckiges Geschirr auf ihn gewartet hatte. Lisas fröhliches Lachen war bis in den Anbau herübergedrungen, den er sich mit seinem Großvater teilte. Es war ihm zeitweise unmöglich gewesen, sich auf den Papierkram zu konzentrieren, den er zu erledigen hatte, so sehr hatte das glockenhelle Lachen der jungen Frau ihn abgelenkt.
Robert schrak hoch, als ein Ast am Jeep entlangschrammte. Schnell lenkte er gegen. Es war leichtsinnig, auf den schmalen Waldwegen mit den Gedanken woanders spazieren zu gehen, zumal der Hang an einigen Stellen besonders steil abfiel. Kaum weniger gefährlich war es für ihn, sich intensiven Überlegungen Lisa betreffend hinzugeben, da sie in etwa drei Wochen ohnehin wieder abreisen würde. Er hatte nicht vor, sich ein zweites Mal das Herz aus dem Leib reißen zu lassen. Dumm nur, dass genau dieser Gedanke darauf hindeutete, dass er offenbar bereit war, es erneut zu verschenken. Vergiss es!, versuchte er, sich selbst zur Vernunft zu bringen.
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