Lisa hörte den jungen Mann etwas brummen und konnte seine Reaktion durchaus nachvollziehen. Denn sie in Frankreich zu benachrichtigen, war eindeutig aufwendiger gewesen, als ein Mädchen zu informieren, das nach dem Tod der Mutter womöglich von Nachbarn aufgenommen oder in ein Heim gesteckt worden war. Oder hieß das etwa, dass Trudi ebenfalls nicht bei Gerda gewohnt hatte?
„Du glaubst ihr also?“ Wieder war der misstrauische Unterton in der tiefen Stimme zu hören. Lisa umgriff das hölzerne Treppengeländer noch fester. Mit Ablehnung kam sie einfach nicht klar. Die Kälte, die ihr seit der Fahrt in den Knochen steckte, weitete sich auf ihr Herz aus.
„Natürlich glaube ich ihr. Sie ist ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Bis auf die Augen, die sind vermutlich ein Erbe ihres Vaters.“
„Und was machen wir jetzt mir ihr?“
„Das ist nicht unsere Entscheidung, Robert, sondern ihre.“
Lisa neigte leicht den Kopf. Der misstrauische Brummbär hieß also Robert.
„Ich gehe davon aus, dass sie ein eigenes Leben führt. Vermutlich hat sie ein paar Tage Urlaub genommen, um hierherzukommen. Den darf sie natürlich gern bei uns verbringen. Und da ich vorhabe, nach Trudi forschen zu lassen, möchte sie vielleicht dabei sein, wenn wir sie gefunden haben, um dann ihre Schwester kennenzulernen.“
„Was für eine seltsame Familie.“
Lisa presste die Lippen zusammen. Hörte sie da bei Robert tatsächlich Mitgefühl heraus?
„Gerda war schon als Kind unglaublich freiheitsliebend. Ihr Elternhaus war … schwierig.“ Jetzt klang auch Charlotte mitfühlend. „Sie war eine wilde, rebellische Jugendliche und dem noch nicht entwachsen, als ich deinen Vater kennenlernte, ihn heiratete und mit ihm hierherzog. Danach hielten wir nur noch sporadisch Briefkontakt, was sicher der Grund ist, warum ich nichts von Gerdas älterer Tochter wusste. Weshalb sie mich dann viele Jahre später als Patentante für Trudi auserkoren hat, erschließt sich mir bis heute nicht. Aber ich habe mich damals sehr über diesen Vertrauensbeweis gefreut und gehofft, fortan wieder mehr Kontakt zu ihr zu haben. Das war allerdings ein Trugschluss. Ich habe Trudi zum Geburtstag, zu jedem Tauftag, zu Ostern und zu Weihnachten Päckchen geschickt. Anfangs bekam ich noch Fotos von ihr zugesandt, dann nur noch eine Dankeskarte ihrer Mutter.“
Lisa schloss gequält die Augen. Sie war sich sicher, dass Trudi in dem Jahr, als keine Fotos mehr in den Schwarzwald verschickt wurden, ebenfalls aus Gerdas Leben verbannt worden war. Nur – wohin? Warum hatte ihre Mutter Trudi nicht auch zu Camille geschickt? Und zu ihr? Dann hätte sie wenigstens eine Schwester gehabt, die sie hätte lieben und versorgen und der sie sich hätte zugehörig fühlen können.
War das nicht geschehen, da Camille zu diesem Zeitpunkt bereits gestorben war? Aber Lisa war schon volljährig gewesen. Sie hätte sich um Trudi kümmern können. Sie … hätte eine Familie gehabt!
Tränen füllten Lisas Augen, und sie wandte sich ab, um wieder hinauf ins Gästezimmer zu flüchten. Im selben Moment ging die Haustür auf und ein großer, stämmiger Mann trat ein, der schwerlich Roberts Vater sein konnte. Dafür war er entschieden zu alt.
Der weißhaarige Mann mit dem struppigen Vollbart warf ihr einen irritierten Blick aus zusammengekniffenen Augen zu. „Lotti, da steht eine potenzielle Schwiegertochter auf der Treppe. Schnapp sie dir, bevor sie flüchtet!“, brüllte er durchs Haus. Der Neuankömmling zwinkerte ihr vergnügt zu, zog Mantel und Schuhe aus und verschwand durch eine Tür, die, so vermutete Lisa, in den Anbau führte.
Lisa war zuerst erschrocken zusammengezuckt, lachte nun aber belustigt auf. Während Robert der erklärte Brummbär in der Familie war, schien dieser Mann, vermutlich Charlottes Vater oder Schwiegervater, eine wahre Frohnatur zu sein.
Robert erschien im Türrahmen und schaute zu Lisa herauf. Interessiert betrachtete er sie, weshalb sie schnell wieder eine ernste Miene aufsetzte. Sie hoffte, dass Robert das mit der zukünftigen Schwiegertochter nicht wirklich ernst nahm.
„Auf meinen Großvater hören Sie besser nicht. Aber ich denke, Sie können einige unserer Fragen beantworten, Fräulein Lisa?“
Diesmal unterdrückte sie ein Schmunzeln. Robert klang schrecklich förmlich. Auch wenn Lisa keine große Lust verspürte, ihm und Charlotte ihren Lebenslauf darzulegen, schuldete sie der Familie Vogel dennoch eine Erklärung. Was sie alles erzählen würde und was sie lieber für sich behielt, vor allem da sie nicht an den hässlichen Erinnerungen rühren wollte, die sie mit einer gut deckenden, freundlich gelben Farbe übermalt hatte, entschied sie in dem Moment, als sie auf den jungen Mann zuging, der ihr einen düsteren Blick zuwarf. Sie musste ihr Herz schützen und pinselte deshalb mit jedem Schritt eine weitere Farbschicht darauf. Um ihr Herz herum zog sie einen Graben und flutete ihn. Mit geweinten und nicht geweinten Tränen …
Johann lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und strich sich durch den weißen Vollbart. Er beobachtete, wie Georg mit seinem Vater Heinrich über die Innenausstattung einer Hütte diskutierte und Robert mit seinem Bierglas spielte, das er bis auf einige Schaumreste geleert hatte. Dabei behielt sein Enkel das Mädchen im Blick, das sie an diesem Tag bei sich aufgenommen hatten, wie sie gelegentlich verletzte Tiere aus dem Wald mit nach Hause nahmen, um sie gesund zu pflegen.
Robert war im Umgang mit Menschen von Natur aus etwas vorsichtiger als Georg und Ralf, sein jüngster Enkel. Seit dem Desaster mit Irmgard war er regelrecht verschlossen und misstrauisch, was er für gewöhnlich aber gut verstecken konnte. Nicht so heute. Seine zu schmalen Schlitzen verengten Augen, die über der Nasenwurzel zusammengeschobenen Augenbrauen und die Querfalten auf seiner Stirn verrieten deutlich sein Unbehagen über die Fremde in ihrem Haus. Er führte sich auf, als hätte seine Mutter einen Fuchs bei den Hühnern einquartiert. Dabei nahmen sie gelegentlich Gäste im Forsthaus auf, vorrangig im Sommer, wenn sowohl das Hotel Hirschen in Vierbrücken als auch das unten am See ausgebucht waren.
Lisa war Charlottes Einladung bereitwillig gefolgt, für die Dauer ihres Urlaubs hierzubleiben, hatte aber ganz selbstverständlich bei den Vorbereitungen für das Abendessen geholfen und stand auch jetzt auf, räumte das Geschirr ab und griff nach dem Geschirrtuch. Von Robert kam ein Brummlaut. Offenbar vermutete er, dass Lisa versuchte, sich bei seiner Mutter einzuschmeicheln. Dass sie nur eine Freundlichkeit mit einer anderen vergelten wollte und sich nützlich zu machen gedachte, sah der verbohrte Junge wohl nicht.
„Lisa“, sagte Johann und runzelte dann die Stirn, als wäre er sich nicht sicher, ob das Mädchen in dem hübschen Kleid auch wirklich so hieß.
„Ja bitte?“ Mit einem tropfenden Teller in der Hand drehte ihr Gast sich zu ihm um. Vor den alten Küchenmöbeln, die Charlotte in freundlichem Hellgrau und Lindgrün gestrichen hatte, wirkte Lisa in ihrem roséfarbenen Kleid mit dem breiten weißen Gürtel und dem schwingenden Rock seltsam deplatziert. Als wäre Elizabeth Taylor plötzlich hier im Schwarzwald aufgetaucht.
„Jemand muss noch Holz im Kachelofen nachlegen, und die Pflanze in meinem Zimmer verdurstet.“
Lisa sah ihn für einen kurzen Moment irritiert an, dann lächelte sie. Johann hätte beinahe laut geseufzt. So ein warmes, liebes Lächeln hatte er schon lange nicht mehr bei einem Mädchen gesehen. Nicht, seit seine Frau gestorben war.
„Sobald die Küche fertig ist, schaue ich danach“, versicherte sie ihm.
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