An einer Weggabelung zögerte sie und rief sich Georgs Wegbeschreibung ins Gedächtnis. Hatte er nicht gesagt, dass sie hier nach rechts gehen musste? Lisa erschien das unsinnig, denn sie wollte doch zum See hinunter, und der rechte Weg schien aufwärtszuführen. In der Annahme, sich das falsch gemerkt zu haben, nahm sie den linken Pfad, vorbei an zwei an einem Haselstrauch befestigten roten Stofffetzen, die an diesem windstillen Morgen traurig nach unten hingen.
Der Weg wurde schmaler und zunehmend steil. Immer häufiger konnte sich Lisa nur noch halten, indem sie ihre Füße auf knorrige Wurzeln oder aus der Erde ragende Gesteinsbrocken stellte. Manchmal lösten sich Letztere unter ihrem Gewicht und sie rutschte ein wenig, fing sich aber stets wieder. Außerdem schien sie den Waldarbeitern näher zu kommen. Das schreckte sie aber nicht, immerhin kannte sie Robert und Heinrich. Sicher wäre es interessant, sie einmal bei der Arbeit zu beobachten.
Lisa rutschte erneut aus und fing sich ab, indem sie den Stamm einer jungen Buche umarmte, die mitten auf dem Pfad wuchs. Sie war nur froh, dass ihr niemand dabei zusah. Leise kichernd löste sie sich von dem borkigen Gesellen und schrak zusammen. Ein lautes Rauschen erscholl. Über ihr krachte es, splitterte Holz. Aufgeschreckt wandte sie den Kopf. Die Krone einer gewaltigen Fichte raste auf sie zu. Ihre Augen weiteten sich. Instinktiv kauerte sie nieder, als wollte sie mit den Wurzeln des Baumes vor sich verschmelzen.
Begleitet von einem mächtigen Donnern kam der gefällte Baumstamm auf der Erde auf. Der Boden unter Lisas Füßen vibrierte. Äste schlugen auf sie ein, zerkratzten ihr den Nacken. Die Fichte schien gegen ihr Schicksal aufzubegehren, indem sie sich ein letztes Mal erhob, sodass die Äste Lisa erneut kratzten wie eine Furie. Dann fiel sie wieder zu Boden. Diesmal meinten die Zweige, Lisa entschuldigend streicheln zu müssen, die Nadeln dagegen stachen ihr in die Kopfhaut und den Nacken. Dort, wo sie ohnehin schon Schmerz verspürte.
Endlich wurde die Welt um sie herum wieder still. Zwar trudelten noch immer Fichtennadeln der Erde entgegen, doch sie verursachten nicht mehr als ein leises Flüstern.
„Verdammt! Da ist jemand!“, hörte sie eine fremde Männerstimme rufen. Sie klang erschrocken, ja nahezu panisch.
„Hast du den nicht gesehen?“
„Ich glaube, das ist eine Frau.“
„Lebt sie noch?“
„Wie konnte sie –?“
Die aufgeregten Stimmen kamen näher, kurz darauf schauten vier bärtige, von der einstigen Sommersonne gebräunte Gesichter auf sie herunter. Sie wagte ein scheues Lächeln, brachte aber keinen Ton hervor. Zu tief saß der Schreck in ihr. Ja, ich lebe noch.
„Was ist hier los?“ Diese durchdringende Stimme kannte Lisa. Sie gehörte Robert. Betroffen schloss sie die Augen. Es wäre ihr lieber gewesen, wenn sie unerkannt hätte verschwinden können. Immerhin war ja nichts passiert.
„Eine Frau ist unter den fallenden Baum geraten“, klärte einer der Männer, die sich noch immer um sie versammelt hatten, den sich nähernden Robert auf.
„Macht mal Platz.“
Ein Scharren entstand um sie herum, sie vernahm das Brechen von Ästen und Zweigen, dann beugte sich ein großer Schatten über sie. „Fräulein Lisa?“
„Mir geht es gut, wirklich“, beteuerte sie sofort.
Ohne auf ihre Worte zu achten, wies Robert die Umstehenden an, schleunigst die größeren Äste zu entfernen, die Lisa gefangen hielten. Die Männer spurteten davon, um ihre Fuchsschwänze zu holen.
„Haben Sie Schmerzen? Können Sie Ihre Beine und Arme bewegen?“ Robert klang wirklich besorgt.
„Aber sicher. Mich haben nur ein paar Äste der Baumkrone gestreift.“
Die Waldarbeiter kehrten mit ihren Sägen zurück und machten sich ans Werk. Das Ratschen und Schaben der Metallzähne, die sich ins Holz fraßen, schmerzte Lisa in den Ohren.
„Wie konnte das passieren?“, knurrte Robert die Arbeiter an. „Wo ist Schuster?“
„Der Chef ist in der Sägemühle. Ich habe keine Ahnung, woher die Frau so plötzlich gekommen ist.“
„Habt ihr die Markierungen vergessen?“
„Nein, die haben wir an allen drei Pfaden aufgehängt, die in diese Gegend führen.“
Lisa machte sich instinktiv etwas kleiner. Ob diese roten Lappen an den Sträuchern etwa jene Markierungen sein sollten? Aber woher sollte sie auch wissen, was sie zu bedeuten hatten? Sie kam aus einer französischen Großstadt, nicht aus … Vierbrücken, Lehengericht oder Schiltach.
„Ich denke, das reicht. Tretet mal zurück.“
Ehe sie sich’s versah, wurde Lisa von Robert unter den Achseln gepackt und wie ein erlegtes Wild aus der unmittelbaren Nähe des gefällten Baumes gezerrt. Zumindest stellte sie sich vor, dass ein geschossenes Reh so behandelt wurde. „Lassen Sie mich los, ich kann allein aufstehen!“, fauchte sie ihn deshalb an. Er gehorchte sofort, sodass sie beinahe mit dem Allerwertesten auf dem Boden gelandet wäre.
Robert reagierte schnell – vielleicht auch, weil er das geahnt hatte – und hielt sie erneut fest. Endlich gelang es Lisa, sich aufzurappeln. Der Mann, der sie festhielt, roch angenehm nach Wald und etwas, was sie als Wildnis und Freiheit interpretierte. Sie schälte sich aus seinem Griff, trat zwei große Schritte zurück und zerrte an ihrer Daunenjacke und der Bluse. Beides war bedenklich weit nach oben gerutscht. Fichtennadeln rieselten ihren Rücken hinunter.
„Haben Sie die roten Markierungen am Wegrand nicht gesehen?“, fragte Robert und klang bemüht freundlich.
„Doch, aber es befand sich kein Schild dabei, auf dem ahnungslosen Wanderern erklärt wird, was sie zu bedeuten haben. Vielleicht wäre es ohnehin von Vorteil, Schilder zu verwenden, anstatt zerrissene Hemden an Sträuchern zu drapieren wie Weihnachtskugeln am Christbaum. Städter und Touristen können nämlich durchaus lesen, auch wenn Sie womöglich vom Gegenteil ausgehen.“ Sie war aufgebracht, weil ihr das Geschehene unangenehm war und weil sie sicher schrecklich aussah. Weil die vier Männer im Hintergrund breit grinsten und sich gegenseitig anstießen. Weil Robert sie mit gerunzelter Stirn böse ansah und weil sie … einfach empört sein wollte. Schließlich war ihr gerade beinahe ein Koloss von Baum auf den Kopf gefallen. Und ihr Nacken schmerzte.
„Es geht ihr gut, wie wir hören können, Männer. Ihr könnt weiterarbeiten.“
Roberts Reaktion und dieses deutliche Grinsen auf seinem Gesicht brachten Lisa noch zusätzlich gegen ihn auf. „Und ich setze meinen Weg auch fort“, beschloss sie, wurde aber von einer Hand auf ihrem Unterarm zurückgehalten.
„Sie bluten. Wir gehen jetzt zu meinem Jeep, und ich schaue mir das an.“
„Das ist sicher nicht mehr als ein Kratzer.“
„Das werden wir sehen.“
Robert legte ihr eine Hand in den Rücken und schob sie regelrecht den Berg hinauf. Schließlich dirigierte er sie auf den Weg, den sie vorhin als den falschen ausgemacht hatte. Recht schnell gelangten sie zu seinem dort geparkten Jeep.
„Am besten, Sie ziehen die Jacke aus.“
Lisa überlegte kurz, ob sie auf diese wenig freundlich vorgebrachte Bitte einfach nicht reagieren sollte, verwarf den Gedanken aber. Hauptsächlich deshalb, weil ihr pochende Schmerzen vom Nacken aus in den Kopf und die Schultern zogen. Also pellte sie sich aus der Jacke und erschrak über deren Zustand. An mehreren Stellen war der Stoff zerrissen. Weiße und graue Federn quollen hervor, als wollten sie nicht länger eingesperrt sein, sondern sich den Weg in die Freiheit bahnen. Dunkle Streifen am Kragen zeigten ihr, dass sie tatsächlich blutete. Für einen Augenblick hatte sie das Gefühl, das Blut sacke ihr in die Beine, doch sie wehrte sich entschieden gegen die überhandnehmen wollende Schwäche ihres Körpers.
„Dann lassen Sie mich mal sehen.“ Jetzt klang Robert schon viel freundlicher. Also stützte Lisa die Hände auf den Türholm und neigte den Kopf nach vorn. Robert strich ihr behutsam die Haare aus dem Nacken, was ein seltsames Prickeln von dort aus bis in ihre Fingerspitzen und Zehen schickte. Unwillkürlich hielt sie den Atem an.
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