Zur Ausdifferenzierung der verschiedenen Beobachtungsformen hat Kleber (vgl. Kleber, 1992, S. 199) einen Kategorisierungsansatz vorgenommen, der unseres Erachtens der bewussten Unterscheidung von Beobachtungssettings in Forschung und Praxis zuträglich ist: Er führt fünf Kategorien an, welche die verschiedenen Beobachtungsformen voneinander abgrenzen. Dies sind der »Anlass«, die »Richtung«, die »Distanz«, die »Offenheit« sowie die »Struktur« einer Beobachtung. Auf dieser Basis unterscheidet er als Modi der Beobachtung:
• Gelegenheitsbeobachtung vs. systematische Beobachtung: Sofern der Anlass einer Beobachtung ein begründetes Erkenntnisinteresse ist und der Beobachter sich gezielt in eine geplante Situation begibt, um genau dieses Interesse zu befriedigen, handelt es sich um eine systematische Beobachtung.
• Selbstbeobachtung vs. Fremdbeobachtung: Die Beobachtung kann auf die eigene Person oder auf äußere Situationen und das Verhalten anderer gerichtet sein. Zwar dominiert in KiTa und Grundschule die Fremdbeobachtung, allerdings gibt es viele Möglichkeiten, die Kinder aktiv in die Beobachtung einzubeziehen und sie nach ihrer Einschätzung der beobachteten Situation zu befragen. Im Sinne der Förderung selbstreflexiven und selbstgesteuerten Lernens spielt die Begleitung der Kinder beim Erwerb der Selbstbeobachtungsfähigkeit eine wichtige Rolle.
• Teilnehmende vs. nicht-teilnehmende Beobachtung: Bezüglich der Distanz des Beobachters zu den zu Beobachtenden wird zwischen teilnehmender Beobachtung, in welcher der Beobachter Teil des aktiven Geschehens ist und in die Situation partizipativ eingebunden wird, und nicht-teilnehmender Beobachtung unterschieden. Bei Letzterer verlässt die pädagogische Fachkraft oder die Lehrkraft ihre Rolle und steht den Kindern für die Beobachtungsdauer nicht als Ansprech-, Spiel- oder Lernpartner/in zur Verfügung. Laut Bensel & Haug-Schnabel (vgl. 2009, S. 21) eröffnet dieser Beobachtungsmodus die Möglichkeit, sich besser auf das Beobachtungsziel zu konzentrieren, eine objektivere Perspektive einzunehmen, nahezu zeitgleich mit dem Geschehen protokollieren zu können und das Beobachtungsergebnis nicht durch eigenes Zutun zu verfälschen.
• Offene vs. verdeckte Beobachtung: Von einer verdeckten Beobachtung wird gesprochen, wenn die Personen, die zum Beobachtungsfeld gehören, nicht wissen, dass sie beobachtet werden. Ist die Beobachtungssituation hingegen von allen Beteiligten klar als solche zu identifizieren, liegt eine offene Beobachtung vor (vgl. Kleber, 1992, S. 199). Eine verdeckte Beobachtung lässt sich beispielsweise durch eine Aufzeichnung einer Situation mithilfe einer fest installierten Kamera realisieren. Die offene Beobachtung signalisiert den Beobachteten das Interesse des Beobachters, welches Kinder häufig positiv im Sinne einer besonderen Zuwendung konnotieren (vgl. Bensel & Haug-Schnabel, 2009, S. 21). Sie kann aber auch dazu führen, dass die beobachtete Person ihr Verhalten verfälscht, um positiv aufzufallen. Nicht selten lenken Kamera oder protokollierender Beobachter die Kinder zu Beginn der Beobachtungssituation von ihren Aktivitäten ab. Aus performanztheoretischer Perspektive kann die offene Beobachtung als öffentliche Inszenierung gedeutet werden, in der sich die Beobachter/innen räumlich in bestimmter Weise zum Kind positionieren, die zu beobachtende Situation für alle sichtbar mit Bedeutung versehen und in der erwartet wird, dass die Kinder sich zu diesem Setting »passend« verhalten, indem sie bereitwillig die Rolle der zu Beobachtenden einnehmen. Eine Alltagssituation wird auf diese Weise zum bildungsbedeutsamen Ereignis (vgl. Schulz, 2011, S. 61).
• Gebundene vs. freie Beobachtung: Kleber differenziert zwischen gebundenen (strukturierten) und freien (unstrukturierten) Beobachtungen. Im Falle der strukturierten Beobachtung ist der Beobachter an feste Regeln und Vorgehensweisen gebunden und folgt einem exakt beschriebenen Beobachtungsleitfaden. Beginn, Dauer und Beobachtungsinhalte sind genau reglementiert. Die gebundene Beobachtung dient dazu, »mit den gewonnenen Daten vorgegebene Hypothesen zu überprüfen« (Jäger, 2007, S. 58). Der Beobachter wählt daher im Vorhinein ein Erhebungsinstrument aus und ist sich bewusst, welche Aspekte er beobachten möchte (gerichtete Aufmerksamkeit). Dabei kann es sich um ein Merkmalsystem handeln. Das bedeutet, dass innerhalb einer festgelegten Beobachtungseinheit (z. B. eine Mathematikstunde) das Auftreten eines durch Fragestellung und Hypothese festgelegten Merkmals erfasst wird. Dies könnte etwa das Melden von Schüler/innen im Unterrichtsgespräch sein, welches beispielsweise in Strichlisten protokolliert wird. Bei Kategoriensystemen werden mehrere Merkmale zu einer Sinneinheit gebündelt und als solche definiert (z. B. verbale Unterrichtsstörung). In diesem Beobachtungsmodus bildet ein vorstrukturierter Beobachtungsbogen die häufigste Dokumentationsform (vgl. Abel et al., 1998, S. 65). Freie, unstrukturierte Beobachtungsverfahren finden bewusst ohne a priori festgelegte Fokusse statt. Sie sind nicht zu verwechseln mit der oben angesprochenen Alltagsbeobachtung (vgl. Abel et al., 1998, S. 64). Unstrukturiert bedeutet, dass nur ein grober Rahmen für die Beobachtung vorgegeben wird (z. B. Nutzung eines bestimmten Mathematikmaterials durch die Kinder). Die Beobachtung innerhalb dieses Rahmens ist explorativ angelegt: Es geht darum, individuelle Besonderheiten und Potenziale der Kinder zu erschließen und Kommunikations- und Lernprozesse sowie Handlungsmuster zu erfassen.
Ergänzend kann im Hinblick auf Mittelbarkeit/Unmittelbarkeit der Beobachtung unterschieden werden zwischen
• Indirekter und direkter Beobachtung: Während bis hierher nur direkte Beobachtungsformen benannt wurden, in denen sich der Beobachter in ein präsentes Feld begibt und dort Primärmaterial, Daten und Strukturmuster aus der jeweils aktuellen Situation erhebt, richtet sich die indirekte Beobachtung auf die Sichtung von Sekundärmaterialien wie Akten, Protokollen, Dokumenten oder Fremdvideos (vgl. Korossy, 2011, S. 22).
Beobachtungen in KiTa und Grundschule sind häufig eingebunden in spezifische Verfahren. Hier wird – je nach dominanter Zielsetzung – vergröbernd zwischen qualitativ-hermeneutischen und quantitativ-diagnostischen Verfahren unterschieden (vgl. Leu, 2011, S. 16). Bei qualitativ-hermeneutischen Verfahren steht die Rekonstruktion sozialer Wirklichkeit durch ein detailliertes Erfassen, Verstehen und Erklären kindlicher Aktivitäten und Deutungsmuster im Vordergrund. Sie beziehen sich auf einzelne Kinder oder Kindergruppen, sind prozessorientiert, wollen situative Dynamiken erfassen und folgen einem Wissenschaftsverständnis, welches als offen und explorativ sowie theorie- und hypothesenbildend bezeichnet werden kann. Quantitativ-diagnostische Verfahren sind bewusst komplexitätsreduzierend. Sie identifizieren und operationalisieren einzelne Variablen, die in vorab aufgestellten Hypothesen überprüft werden. Verfahren dieser Art erlauben es, Entwicklungsstände und Kompetenzen von Kindern präzise zu erfassen, mit je aktuell gültigen Normwerten zu vergleichen und auf diese Weise zu empirisch belastbaren Aussagen zu kommen. Auch interindividuelle Vergleiche von Kindern einer Alterskohorte sind auf diese Weise möglich (vgl. Leu, 2011, S. 16). Beide Verfahrensansätze sind nicht so isoliert voneinander zu betrachten, wie es auf den ersten Blick in der Theorie scheint:
»Dass es zwischen beiden Verfahren Schnittmengen gibt, ist unbestritten: Das Verstehen der situativen Dynamik und auch der Entstehungsgeschichte individueller und gruppenbezogener kindlicher Aktivitäten ist auch auf eine Vorstellung vom Entwicklungsstand angewiesen, wie auch davon auszugehen ist, dass Entwicklungsstände nicht ohne Bezug zur Bedeutung zu erfassen sind, die sie für das Verständnis des alltäglichen Handelns von Kindern haben« (Leu, 2011, S. 16).
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