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86.
Henrik Ibsen ist mir sehr deutlich geworden. Mit all seinem robusten Idealismus und »Willen zur Wahrheit« hat er sich nicht von dem Moral-Illusionismus frei zu machen gewagt, welcher »Freiheit« sagt und nicht sich eingestehen will, was Freiheit ist: die zweite Stufe in der Metamorphose des »Willens zur Macht« seitens Derer, denen sie fehlt. Auf der ersten verlangt man Gerechtigkeit von Seiten Derer, welche die Macht haben. Auf der zweiten sagt man »Freiheit«, d. h. man will »loskommen« von Denen, welche die Macht haben. Auf der dritten sagt man » gleiche Rechte «, d. h. man will, so lange man noch nicht das Übergewicht hat, auch die Mitbewerber hindern, in der Macht zu wachsen.
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87.
Niedergang des Protestantismus : theoretisch und historisch als Halbheit begriffen. Thatsächliches Übergewicht des Katholizismus; das Gefühl des Protestantismus so erloschen, daß die stärksten antiprotestantischen Bewegungen nicht mehr als solche empfunden werden (zum Beispiel Wagner’s Parsifal). Die ganze höhere Geistigkeit in Frankreich ist katholisch im Instinkt; Bismarck hat begriffen, daß es einen Protestantismus gar nicht mehr giebt.
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88.
Der Protestantismus, jene geistig unreinliche und langweilige Form der décadence , in der das Christenthum sich bisher im mediokren Norden zu conserviren gewußt hat: als etwas Halbes und Complexes werthvoll für die Erkenntniß, insofern es Erfahrungen verschiedener Ordnung und Herkunft in den gleichen Köpfen zusammenbrachte.
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89.
Was hat der deutsche Geist aus dem Christenthum gemacht! – Und daß ich beim Protestantismus stehen bleibe: wie viel Bier ist wieder in der protestantischen Christlichkeit! Ist eine geistig verdumpftere, faulere, gliederstreckendere Form des Christen-Glaubens noch denkbar, als die eines deutschen Durchschnitts-Protestanten? … Das nenne ich mir ein bescheidnes Christentum! eine Homöopathie des Christentums nenne ich’s! – Man erinnert mich daran, daß es heute auch einen unbescheidnen Protestantismus giebt, den der Hofprediger und antisemitischen Spekulanten: aber Niemand hat noch behauptet, daß irgend ein »Geist« auf diesen Gewässern »schwebe« … Das ist bloß eine unanständigere Form der Christlichkeit, durchaus noch keine verständigere …
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90.
Fortschritt. – Daß wir uns nicht täuschen! Die Zeit läuft vorwärts, – wir möchten glauben, daß auch Alles, was in ihr ist, vorwärts läuft, – daß die Entwicklung eine Vorwärts-Entwicklung ist … Das ist der Augenschein, von dem die Besonnensten verführt werden. Aber das neunzehnte Jahrhundert ist kein Fortschritt gegen das sechszehnte: und der deutsche Geist von 1888 ist ein Rückschritt gegen den deutschen Geist von 1788 … Die »Menschheit« avancirt nicht, sie existirt nicht einmal. Der Gesammt-Aspekt ist der einer ungeheuren Experimentir-Werkstätte, wo Einiges gelingt, zerstreut durch alle Zeiten, und Unsägliches mißräth, wo alle Ordnung, Logik, Verbindung und Verbindlichkeit fehlt. Wie dürften wir verkennen, daß die Heraufkunft des Christentums eine décadence -Bewegung ist? … Daß die deutsche Reformation eine Recrudescenz der christlichen Barbarei ist? … Daß die Revolution den Instinkt zur großen Organisation der Gesellschaft zerstört hat? … Der Mensch ist kein Fortschritt gegen das Thier: der Cultur-Zärtling ist eine Mißgeburt im Vergleich zum Araber und Corsen; der Chinese ist ein wohlgerathnerer Typus, nämlich dauerfähiger, als der Europäer …
b) Die letzten Jahrhunderte.
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91.
Die Verdüsterung, die pessimistische Färbung kommt nothwendig im Gefolge der Aufklärung. Gegen 1770 bemerkte man bereits die Abnahme der Heiterkeit; Frauen dachten, mit jenem weiblichen Instinkt, der immer zu Gunsten der Tugend Partei nimmt, daß die Immoralität daran Schuld sei. Galiani traf in’s Schwarze: er citirt Voltaire’s Vers:
Un monstre gai vaut mieux
Qu’un sentimental ennuyeux.
Wenn ich nun vermeine, jetzt um ein paar Jahrhunderte Voltairen und sogar Galiani – der etwas viel Tieferes war – in der Aufklärung voraus zu sein: wie weit mußte ich also gar in der Verdüsterung gelangt sein! Dies ist auch wahr: und ich nahm zeitig mich mit einer Art Bedauern in Acht vor der deutschen und christlichen Enge und Folge-Unrichtigkeit des Schopenhauer’schen oder gar Leopardi’schen Pessimismus und suchte die principiellsten Formen auf (– Asien –). Um aber diesen extremen Pessimismus zu ertragen (wie er hier und da aus meiner »Geburt der Tragödie« herausklingt), »ohne Gott und Moral« allein zu leben, mußte ich mir ein Gegenstück erfinden. Vielleicht weiß ich am besten, warum der Mensch allein lacht: er allein leidet so tief, daß er das Lachen erfinden mußte . Das unglücklichste und melancholischste Thier ist, wie billig, das heiterste.
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92.
In Bezug auf deutsche Cultur habe ich das Gefühl des Niedergangs immer gehabt. Das hat mich oft unbillig gegen das ganze Phänomen der europäischen Cultur gemacht, daß ich eine niedergehende Art kennen lernte. Die Deutschen kommen immer später hinterdrein: sie tragen Etwas in der Tiefe , z. B. –
Abhängigkeit vom Ausland: z. B. Kant – Rousseau, Sensualisten, Hume, Swedenborg.
Schopenhauer – Inder und Romantik, Voltaire.
Wagner – französischer Cultus des Gräßlichen und der großen Oper, Paris und Flucht in Urzustände (die Schwester-Ehe).
– Gesetz der Nachzügler (Provinz nach Paris, Deutschland nach Frankreich). Wieso gerade Deutsche das Griechische entdeckten (: je stärker man einen Trieb entwickelt, umso anziehender wird es, sich einmal in seinen Gegensatz zu stürzen).
Musik ist Aus klingen.
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93.
Renaissance und Reformation. – Was beweist die Renaissance? Daß das Reich des »Individuums« nur kurz sein kann. Die Verschwendung ist zu groß: es fehlt die Möglichkeit selbst, zu sammeln, zu capitalisiren, und die Erschöpfung folgt auf dem Fuße. Es sind Zeiten, wo Alles verthan wird, wo die Kraft selbst verthan wird, mit der man sammelt, capitalisirt, Reichthum auf Reichthum häuft … Selbst die Gegner solcher Bewegungen sind zu einer unsinnigen Kraftvergeudung gezwungen; auch sie werden alsbald erschöpft, ausgebraucht, öde.
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