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76.
Das Übergewicht der Händler und Zwischenpersonen , auch im Geistigsten: der Litterat, der »Vertreter«, der Historiker (als Verquicker des Vergangenen und Gegenwärtigen), der Exotiker und Kosmopolit, die Zwischenpersonen zwischen Naturwissenschaft und Philosophie, die Semi-Theologen.
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77.
Den größten Ekel haben mir bisher die Schmarotzer des Geistes gemacht: man findet sie, in unserem ungesunden Europa, überall schon, und zwar mit dem besten Gewissen von der Welt. Vielleicht ein wenig trübe, ein wenig air pessimiste , in der Hauptsache aber gefräßig, schmutzig, beschmutzend, sich einschleichend, einschmiegend, diebisch, krätzig – und unschuldig wie alle kleinen Sünder und Mikroben. Sie leben davon, daß andere Leute Geist haben und mit vollen Händen ausgeben: sie wissen, wie es selbst zum Wesen des reichen Geistes gehört, unbekümmert, ohne kleinliche Vorsicht, auf den Tag hin und selbst verschwenderisch sich auszugeben. – Denn der Geist ist ein schlechter Haushalter und hat kein Augenmerk darauf, wie Alles von ihm lebt und zehrt.
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78.
Die Schauspielerei
Die Farbenbuntheit des modernen Menschen und ihr Reiz. Wesentlich Versteck und Überdruß.
Der Litterat.
Der Politiker (im »nationalen Schwindel«).
Die Schauspielerei in den Künsten:
Mangel an Probität der Vorbildung und Schulung (Fromentin);
die Romantiker (Mangel an Philosophie und Wissenschaft und Überfluß an Litteratur);
die Romanschreiber (Walter Scott, aber auch die Nibelungen-Ungeheuer mit der nervösesten Musik);
die Lyriker.
Die »Wissenschaftlichkeit«.
Virtuosen (Juden).
Die volksthümlichen Ideale als überwunden, aber noch nicht vor dem Volk :
der Heilige, der Weise, der Prophet.
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79.
Die Zuchtlosigkeit des modernen Geistes unter allerhand moralischem Aufputz. – Die Prunkworte sind: die Toleranz (für »Unfähigkeit zu Ja und Nein«); la largeur de sympathie (– ein Drittel Indifferenz, ein Drittel Neugierde, ein Drittel krankhafte Erregbarkeit); die »Objektivität« (– Mangel an Person, Mangel an Wille, Unfähigkeit zur »Liebe«); die »Freiheit« gegen die Regel (Romantik); die »Wahrheit« gegen die Fälscherei und Lügnerei (Naturalismus); die »Wissenschaftlichkeit« (das » document humain «: auf Deutsch der Colportage-Roman und die Addition – statt der Composition); die »Leidenschaft« an Stelle der Unordnung und der Unmäßigkeit; die »Tiefe« an Stelle der Verworrenheit, des Symbolen-Wirrwars.
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80.
Zur Kritik der großen Worte .– Ich bin voller Argwohn und Bosheit gegen Das, was man »Ideal« nennt: hier liegt mein Pessimismus , erkannt zu haben, wie die »höheren Gefühle« eine Quelle des Unheils, das heißt der Verkleinerung und Wertherniedrigung des Menschen sind.
Man täuscht sich jedesmal, wenn man einen »Fortschritt« von einem Ideal erwartet; der Sieg des Ideals war jedesmal bisher eine retrograde Bewegung .
Christenthum, Revolution, Aufhebung der Sklaverei, gleiche Rechte, Philanthropie, Friedensliebe, Gerechtigkeit, Wahrheit: alle diese großen Worte haben nur Werth im Kampf, als Standarte: nicht als Realitäten, sondern als Prunkworte , für etwas ganz Anderes (ja Gegensätzliches!).
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81.
Man kennt die Art Mensch, welche sich in die Sentenz tout comprendre c’est tout pardonner verliebt hat. Es sind die Schwachen, es sind vor Allem die Enttäuschten: wenn es an Allem etwas zu verzeihen giebt, so giebt es auch an Allem etwas zu verachten! Es ist die Philosophie der Enttäuschung, die sich hier so human in Mitleiden einwickelt und süß blickt.
Das sind Romantiker, denen der Glaube flöten gieng: nun wollen sie wenigstens noch zusehen , wie Alles läuft und verläuft. Sie nennen’s l’art pour l’art , »Objektivität« u. s. w.
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82.
Haupt-Symptome des Pessimismus : – die diners chez Magny ; der russische Pessimismus (Tolstoi, Dostoiewsky); der ästhetische Pessimismus, l’art pour l’art , » description « (der romantische und der antiromantische Pessimismus); der erkenntnißtheoretische Pessimismus (Schopenhauer; der Phänomenalismus); der anarchistische Pessimismus; die »Religion des Mitleids«, buddhistische Vorbewegung; der Cultur-Pessimismus: (Exotismus, Kosmopolitismus); der moralistische Pessimismus: ich selber.
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83.
» Ohne den christlichen Glauben , meinte Pascal, werdet ihr euch selbst, ebenso wie die Natur und die Geschichte, un monstre et un chaos .« Diese Prophezeiung haben wir erfüllt : nachdem das schwächlich-optimistische achtzehnte Jahrhundert den Menschen verhübscht und verrationalisirt hatte.
Schopenhauer und Pascal , – In einem wesentlichen Sinne ist Schopenhauer der Erste, der die Bewegung Pascal’s wieder aufnimmt : un monstre et un chaos , folglich Etwas, das zu verneinen ist … Geschichte, Natur, der Mensch selbst!
» Unsre Unfähigkeit, die Wahrheit zu erkennen , ist die Folge unsrer Verderbniß , unsres moralischen Verfalls «: so Pascal. Und so im Grunde Schopenhauer. »Je tiefer die Verderbniß der Vernunft, umso nothwendiger die Heilslehre« – oder, Schopenhauerisch gesprochen, die Verneinung.
Schopenhauer als Nachschlag (Zustand vor der Revolution): – Mitleid, Sinnlichkeit, Kunst, Schwäche des Willens, Katholicismus der geistigsten Begierden – das ist gutes achtzehntes Jahrhundert au fond .
Schopenhauers Grundmißverständniß des Willens (wie als ob Begierde, Instinkt, Trieb das Wesentliche am Willen sei) ist typisch: Wertherniedrigung des Willens bis zur Verkennung. Insgleichen Haß gegen das Wollen; Versuch, in dem Nicht-mehr-wollen, im »Subjektsein ohne Ziel und Absicht« (im »reinen willensfreien Subjekt«) etwas Höheres, ja das Höhere, das Werthvolle zu sehen. Großes Symptom der Ermüdung oder der Schwäche des Willens: denn dieser ist ganz eigentlich Das, was die Begierden als Herr behandelt, ihnen Weg und Maaß weist …
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85.
Man hat den unwürdigen Versuch gemacht, in Wagner und Schopenhauer Typen der geistig Gestörten zu sehen: eine ungleich wesentlichere Einsicht wäre gewonnen, den Typus der décadence , den Beide darstellen, wissenschaftlich zu präcisiren.
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