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59.
Zur Geschichte der modernen Verdüsterung.
Die Staats-Nomaden (Beamte u. s. w.): ohne »Heimat« –.
Der Niedergang der Familie.
Der »gute Mensch« als Symptom der Erschöpfung.
Gerechtigkeit als Wille zur Macht (Züchtung).
Geilheit und Neurose.
Schwarze Musik: – die erquickliche Musik wohin?
Der Anarchist.
Menschenverachtung, Ekel.
Tiefste Unterscheidung: ob der Hunger oder der Überfluß schöpferisch wird? Ersterer erzeugt die Ideale der Romantik . –
Nordische Unnatürlichkeit.
Das Bedürfnis; nach Alcoholica : die Arbeiter-»Noth«.
Der Philosophische Nihilismus.
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60.
Das langsame Hervortreten und Emporkommen der mittleren und niederen Stände (eingerechnet der niederen Art Geist und Leib), welches schon vor der französischen Revolution reichlich präludirt und ohne Revolution ebenfalls seinen Weg vorwärts gemacht hätte, – im Ganzen also das Übergewicht der Heerde über alle Hirten und Leithämmel – bringt mit sich 1. Verdüsterung des Geistes (– das Beieinander eines stoischen und frivolen Anscheins von Glück, wie es vornehmen Kulturen eigen ist, nimmt ab; man läßt viele Leiden sehn und hören , welche man früher ertrug und verbarg);
2. die moralische Hypokrisie (eine Art, sich durch Moral auszeichnen zu wollen, aber durch die Heerden-Tugenden: Mitleid, Fürsorge, Mäßigung und nicht durch solche, die außer dem Heerden-Vermögen erkannt und gewürdigt werden);
3. eine wirkliche große Menge von Mitleiden und Mitfreude (das Wohlgefallen im großen Beieinander, wie es alle Heerdenthiere haben – »Gemeinsinn«, »Vaterland«, Alles, wo das Individuum nicht in Betracht kommt).
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61.
Unsere Zeit mit ihrem Streben, den zufälligen Nöthen abzuhelfen, vorzubeugen und die unangenehmen Möglichkeiten vorweg zu bekriegen, ist eine Zeit der Armen. Unsere »Reichen« – das sind die Ärmsten! Der eigentliche Zweck alles Reichthums ist vergessen !
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62.
Kritik des modernen Menschen: – »der gute Mensch«, nur verdorben und verführt durch schlechte Institutionen (Tyrannen und Priester); – die Vernunft als Autorität; – die Geschichte als Überwindung von Irrthümern; – die Zukunft als Fortschritt; – der christliche Staat (»der Gott der Heerschaaren«); – der christliche Geschlechtsbetrieb (oder die Ehe); – das Reich der »Gerechtigkeit« (der Cultus der »Menschheit«); – die »Freiheit«.
Die romantische Attitüde des modernen Menschen: – der edle Mensch (Byron, Victor Hugo, George Sand); – die edle Entrüstung; – die Heiligung durch die Leidenschaft (als wahre »Natur«); – das Parteinehmen für die Unterdrückten und Schlechtweggekommenen: Motto der Historiker und Romanciers; – die Stoiker der Pflicht; – die »Selbstlosigkeit« als Kunst und Erkenntniß; – der Altruismus als verlogenste Form des Egoismus (Utilitarismus), gefühlsamster Egoismus.
Dies Alles ist achtzehntes Jahrhundert. Was dagegen nicht sich aus ihm vererbt hat: die insouciance , die Heiterkeit, die Eleganz, die geistige Helligkeit. Das Tempo des Geistes hat sich verändert; der Genuß an der geistigen Feinheit und Klarheit ist dem Genuß an der Farbe, Harmonie, Masse, Realität u. s. w. gewichen. Sensualismus im Geistigen. Kurz, es ist das achtzehnte Jahrhundert Rousseau’s .
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63.
Im Großen gerechnet, ist in unsrer jetzigen Menschheit ein ungeheures Quantum von Humanität erreicht. Daß dies im allgemeinen nicht empfunden wird, ist selber ein Beweis dafür: wir sind für die kleinen Nothstände so empfindlich geworden, daß wir Das, was erreicht ist, unbillig übersehn.
Hier ist abzurechnen, daß es viel décadence giebt und daß mit solchen Augen gesehn, unsre Welt schlecht und miserabel aussehn muß . Aber diese Augen haben zu allen Zeiten das Gleiche gesehn:
1) eine gewisse Überreizung selbst der moralischen Empfindung,
2) das Quantum Verbitterung und Verdüsterung, das der Pessimismus mit sich in die Veurtheilung trägt: – beides zusammen hat der entgegengesetzten Vorstellung, daß es schlecht mit unsrer Moralität steht, zum Übergewicht verholfen.
Die Thatsache des Credits, des ganzen Welthandels, der Verkehrsmittel – ein ungeheures mildes Vertrauen auf den Menschen drückt sich darin aus … Dazu trägt auch bei
3) die Loslösung der Wissenschaft von moralischen und religiösen Absichten: ein sehr gutes Zeichen, das aber meistens falsch verstanden ist.
Ich versuche auf meine Weise eine Rechtfertigung der Geschichte.
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64.
Der zweite Buddhismus . – Vorzeichen dafür: Das Überhandnehmen des Mitleids. Die geistige Übermüdung. Die Reduktion der Probleme auf Lust- und Unlust-Fragen. Die Kriegs-Glorie, welche einen Gegenschlag hervorruft. Ebenso wie die nationale Abgrenzung eine Gegenbewegung, die herzlichste »Fraternität«, hervorruft. Die Unmöglichkeit der Religion, mit Dogmen und Fabeln fortarbeiten zu können.
Mit dieser buddhistischen Cultur wird die nihilistische Katastrophe ein Ende machen.
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65.
Was heute am tiefsten angegriffen ist, das ist der Instinkt und der Wille der Tradition : alle Institutionen, die diesem Instinkt ihre Herkunft verdanken, gehen dem modernen Geiste wider den Geschmack … Im Grunde denkt und thut man Nichts, was nicht den Zweck verfolgte, diesen Sinn für Überlieferung mit den Wurzeln herauszureißen. Man nimmt die Tradition als Fatalität; man studirt sie, man erkennt sie an (als »Erblichkeit« –), aber man will sie nicht. Die Anspannung eines Willens über lange Zeitfernen hin, die Auswahl der Zustände und Werthungen, welche es machen, daß man über Jahrhunderte der Zukunft verfügen kann – das gerade ist im höchsten Maaße antimodern. Woraus sich ergiebt, daß die desorganisirenden Principien unserem Zeitalter den Charakter geben.
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66.
»Seid einfach« – eine Aufforderung an uns verwickelte und unfaßbare Nierenprüfer, welche eine einfache Dummheit ist … Seid natürlich: aber wie, wenn man eben »unnatürlich« ist ? …
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67.
Die ehemaligen Mittel, gleichartige , dauernde Wesen durch lange Geschlechter zu erzielen: unveräußerlicher Grundbesitz, Verehrung der Älteren (Ursprung des Götter- und Heroen-Glaubens als der Ahnherren).
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