Jetzt gehört die Zersplitterung des Grundbesitzes in die entgegengesetzte Tendenz. Eine Zeitung an Stelle der täglichen Gebete . Eisenbahn, Telegraph. Centralisation einer ungeheuren Menge verschiedener Interessen in Einer Seele: die dazu sehr stark und verhandlungsfähig sein muß.
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68.
Weshalb Alles Schauspielerei wird. – Dem modernen Menschen fehlt: der sichere Instinkt (Folge einer langen gleichartigen Thätigkeitsform einer Art Mensch); die Unfähigkeit, etwas Vollkommnes zu leisten, ist bloß die Folge davon: – man kann als Einzelner die Schule nie nachholen.
Das, was eine Moral, ein Gesetzbuch schafft: der tiefe Instinkt dafür, daß erst der Automatismus die Vollkommenheit möglich macht in Leben und Schaffen.
Aber jetzt haben wir den entgegengesetzten Punkt erreicht, ja, wir haben ihn erreichen gewollt – die extremste Bewußtheit, die Selbstdurchschauung des Menschen und der Geschichte: – damit sind wir praktisch am fernsten von der Vollkommenheit in Sein, Thun und Wollen: unsere Begierde, unser Wille selbst zur Erkenntnis ist ein Symptom einer ungeheuren décadence . Wir streben nach dem Gegentheil von Dem, was starke Rassen, starke Naturen wollen, – das Begreifen ist ein Ende …
Daß Wissenschaft möglich ist in diesem Sinne, wie sie heute geübt wird, ist der Beweis dafür, daß alle elementaren Instinkte, Nothwehr - und Schutz -Instinkte des Lebens nicht mehr fungiren. Wir sammeln nicht mehr, wir verschwenden die Kapitalien der Vorfahren, auch noch in der Art, wie wir erkennen –
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69.
Nihilistischer Zug
a) in den Naturwissenschaften (»Sinnlosigkeit« –); Causalismus, Mechanismus. Die »Gesetzmäßigkeit« ein Zwischenakt, ein Überbleibsel.
b) Insgleichen in der Politik : es fehlt einem der Glaube an sein Recht, die Unschuld; es herrscht die Lügnerei, die Augenblicks-Dienerei.
c) Insgleichen in der Volkswirthschaft : die Aufhebung der Sklaverei: Mangel eines erlösenden Standes, eines Rechtfertigers , – Heraufkommen des Anarchismus. »Erziehung«?
d) Insgleichen in der Geschichte : der Fatalismus, der Darwinismus; die letzten Versuche, Vernunft und Göttlichkeit hineinzudeuten, mißrathen. Sentimentalität vor der Vergangenheit; man ertrüge keine Biographie! – (Der Phänomenalismus auch hier: Charakter als Maske; es giebt keine Thatsachen.)
e) Insgleichen in der Kunst : Romantik und ihr Gegenschlag (Widerwille gegen die romantischen Ideale und Lügen). Letzterer, moralisch, als Sinn größerer Wahrhaftigkeit, aber pessimistisch. Die reinen »Artisten« (gleichgültig gegen den Inhalt). (Beichtvater-Psychologie und Puritaner-Psychologie, zwei Formen der psychologischen Romantik: aber auch noch ihr Gegenschlag, der Versuch sich rein artistisch zum »Menschen« zu stellen, – auch da wird noch nicht die umgekehrte Werthschätzung gewagt !)
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70.
Gegen die Lehre vom Einfluß des Milieu’s und der äußeren Ursachen: die innere Kraft ist unendlich überlegen ; Vieles, was wie Einfluß von Außen aussieht, ist nur ihre Anpassung von Innen her. Genau dieselben Milieu’s können entgegengesetzt ausgedeutet und ausgenützt werden: es giebt keine Thatsachen. – Ein Genie ist nicht erklärt aus solchen Entstehungs-Bedingungen –
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71.
Die » Modernität « unter dem Gleichniß von Ernährung und Verdauung. –
Die Sensibilität unsäglich reizbarer (– unter moralistischem Aufputz: die Vermehrung des Mitleids –); die Fülle disparater Eindrücke größer als je: – der Kosmopolitismus der Speisen, der Litteraturen, Zeitungen, Formen, Geschmäcker, selbst Landschaften. Das Tempo dieser Einströmung ein Prestissimo ; die Eindrücke wischen sich aus; man wehrt sich instinktiv, Etwas hereinzunehmen, tief zu nehmen, Etwas zu »verdauen«; – Schwächung der Verdauungs-Kraft resultirt daraus. Eine Art Anpassung an diese Überhäufung mit Eindrücken tritt ein: der Mensch verlernt zu agiren ; er reagirt nur noch auf Erregungen von Außen her. Er giebt seine Kraft aus theils in der Aneignung , theils in der Verteidigung , theils in der Entgegnung . Tiefe Schwächung der Spontaneität : – der Historiker, Kritiker, Analytiker, der Interpret, der Beobachter, der Sammler, der Leser, – alles reaktive Talente, – alle Wissenschaft!
Künstliche Zurechtmachung seiner Natur zum »Spiegel«; interessirt, aber gleichsam bloß epidermal-interessirt; eine grundsätzliche Kühle, ein Gleichgewicht, eine festgehaltene niedere Temperatur dicht unter der dünnen Fläche, auf der es Wärme, Bewegung, »Sturm«, Wellenspiel giebt.
Gegensatz der äußeren Beweglichkeit zu einer gewissen tiefen Schwere und Müdigkeit .
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72.
Wohin gehört unsre moderne Welt: in die Erschöpfung oder in den Aufgang? – Ihre Vielheit und Unruhe bedingt durch die höchste Form des Bewußtwerdens .
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73.
Überarbeitung, Neugierde und Mitgefühl – unsere modernen Laster .
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74.
Zur Charakteristik der » Modernität «. – Überreichliche Entwicklung der Zwischengebilde; Verkümmerung der Typen; Abbruch der Traditionen, Schulen; die Überherrschaft der Instinkte (philosophisch vorbereitet: das Unbewußte mehr werth ) nach eingetretener Schwächung der Willenskraft , des Wollens von Zweck und Mittel.
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75.
Ein tüchtiger Handwerker oder Gelehrter nimmt sich gut aus, wenn er seinen Stolz bei seiner Kunst hat und genügsam und zufrieden auf das Leben blickt. Nichts hingegen ist jämmerlicher anzuschauen, als wenn ein Schuster oder Schulmeister mit leidender Miene zu verstehen giebt, er sei eigentlich für etwas Besseres geboren. Es giebt gar nichts Besseres, als das Gute! und das ist: irgend eine Tüchtigkeit haben und aus ihr schaffen, virtù im italienischen Sinne der Renaissance.
Heute, in der Zeit wo der Staat einen unsinnig dicken Bauch hat, giebt es in allen Feldern und Fächern, außer den eigentlichen Arbeitern, noch »Vertreter«: z. B. außer den Gelehrten noch Litteraten, außer den leidenden Volksschichten noch schwätzende prahlerische Thunichtgute, welche jenes Leiden »vertreten«, – gar nicht zu reden von den Politikern von Berufs wegen, welche sich wohlbefinden und Nothstände vor einem Parlament mit starken Lungen »vertreten«. Unser modernes Leben ist äußerst kostspielig durch die Menge Zwischenpersonen; in einer antiken Stadt dagegen, und im Nachklang daran noch in mancher Stadt Spaniens und Italiens, trat man selber auf und hatte Nichts auf einen solchen modernen Vertreter und Zwischenhändler gegeben – es sei denn einen Tritt!
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