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54.
Ich habe das Glück, nach ganzen Jahrtausenden der Verirrung und Verwirrung den Weg wiedergefunden zu haben, der zu einem Ja und einem Nein führt.
Ich lehre das Nein zu Allem, was schwach macht, – was erschöpft.
Ich lehre das Ja zu Allem, was stärkt, was Kraft aufspeichert, was das Gefühl der Kraft rechtfertigt.
Man hat weder das Eine noch das Andre bisher gelehrt: man hat Tugend, Entselbstung, Mitleiden, man hat selbst Verneinung des Lebens gelehrt. Dies Alles sind Werthe der Erschöpften.
Ein langes Nachdenken über die Physiologie der Erschöpfung zwang mich zu der Frage, wieweit die Urtheile Erschöpfter in die Welt der Werthe eingedrungen seien.
Mein Ergebniß war so überraschend wie möglich, selbst für mich, der in mancher fremden Welt schon zu Hause war: ich fand alle obersten Werthurtheile, alle, die Herr geworden sind über die Menschheit, mindestens zahm gewordene Menschheit, zurückführbar auf die Urtheile Erschöpfter.
Unter den heiligsten Namen zog ich die zerstörerischen Tendenzen heraus; man hat Gott genannt, was schwächt, Schwäche lehrt, Schwäche inficirt … ich fand, daß der »gute Mensch« eine Selbstbejahungsform der décadence ist.
Jene Tugend, von der noch Schopenhauer gelehrt hat, daß sie die oberste, die einzige und das Fundament aller Tugenden sei: eben jenes Mitleiden erkannte ich als gefährlicher, als irgend ein Laster. Die Auswahl in der Gattung, ihre Reinigung vom Abfall grundsätzlich kreuzen – das hieß bisher Tugend par excellence …
Man soll das Verhängnis ; in Ehren halten; das Verhängnis;, das zum Schwachen sagt »geh zu Grunde!«…
Man hat es Gott genannt, daß man dem Verhängniß widerstrebte, – daß man die Menschheit verdarb und verfaulen machte… Man soll den Namen Gottes nicht unnützlich führen…
Die Rasse ist verdorben – nicht durch ihre Laster, sondern ihre Ignoranz: sie ist verdorben, weil sie die Erschöpfung nicht als Erschöpfung verstand: die physiologischen Verwechslungen sind die Ursache alles Übels…
Die Tugend ist unser großes Mißverständniß.
Problem: wie kamen die Erschöpften dazu, die Gesetze der Werthe zu machen? Anders gefragt: wie kamen Die zur Macht, die die Letzten sind?… Wie kam der Instinkt des Thieres Mensch auf den Kopf zu stehn?…
4. Die Krisis: Nihilismus und Wiederkunftsgedanke.
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55.
Extreme Positionen werden nicht durch ermäßigte abgelöst, sondern wiederum durch extreme, aber umgekehrte . Und so ist der Glaube an die absolute Immoralität der Natur, an die Zweck- und Sinnlosigkeit der psychologisch-nothwendige Affekt , wenn der Glaube an Gott und eine essentiell moralische Ordnung nicht mehr zu halten ist. Der Nihilismus erscheint jetzt, nicht weil die Unlust am Dasein größer wäre als früher, sondern weil man überhaupt gegen einen »Sinn« im Übel, ja im Dasein mißtrauisch geworden ist. Eine Interpretation gieng zu Grunde: weil sie aber als die Interpretation galt, erscheint es, als ob es gar keinen Sinn im Dasein gebe, als ob Alles umsonst sei.
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Daß dies »Umsonst!« der Charakter unseres gegenwärtigen Nihilismus ist, bleibt nachzuweisen. Das Mißtrauen gegen unsere früheren Wertschätzungen steigert sich bis zur Frage: »sind nicht alle ›Werthe‹ Lockmittel, mit denen die Komödie sich in die Länge zieht, aber durchaus nicht einer Lösung näherkommt?« Die Dauer , mit einem »Umsonst«, ohne Ziel und Zweck, ist der lähmendste Gedanke, namentlich noch wenn man begreift, daß man gefoppt wird und doch ohne Macht ist, sich nicht foppen zu lassen.
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Denken wir diesen Gedanken in seiner furchtbarsten Form: das Dasein; so wie es ist, ohne Sinn und Ziel, aber unvermeidlich wiederkehrend, ohne ein Finale in’s Nichts: » die ewige Wiederkehr «.
Das ist die extremste Form des Nihilismus: das Nichts (das »Sinnlose«) ewig!
Europäische Form des Buddhismus: Energie des Wissens und der Kraft zwingt zu einem solchen Glauben. Es ist die wissenschaftlichste aller möglichen Hypothesen. Wir leugnen Schluß-Ziele: hätte das Dasein eins, so müßte es erreicht sein.
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Da begreift man, daß hier ein Gegensatz zum Pantheismus angestrebt wird: denn »Alles vollkommen, göttlich, ewig« zwingt ebenfalls zu einem Glauben an die »ewige Wiederkunft «. Frage: ist mit der Moral auch diese pantheistische Ja-Stellung zu allen Dingen unmöglich gemacht? Im Grunde ist ja nur der moralische Gott überwunden. Hat es einen Sinn, sich einen Gott »jenseits von Gut und Böse« zu denken? Wäre ein Pantheismus in diesem Sinne möglich? Bringen wir die Zweckvorstellung aus dem Processe weg und bejahen wir trotzdem den Proceß? – Das wäre der Fall, wenn Etwas innerhalb jenes Processes in jedem Momente desselben erreicht würde – und immer das Gleiche. Spinoza gewann eine solche bejahende Stellung, insofern jeder Moment eine logische Nothwendigkeit hat: und er triumphirte mit seinem logischen Grundinstinkte über eine solche Weltbeschaffenheit.
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Aber sein Fall ist nur ein Einzel-Fall. Jeder Grundcharakterzug , der jedem Geschehen zu Grunde liegt, der sich in jedem Geschehen ausdrückt, müßte, wenn er von einem Individuum als sein Grundcharakterzug empfunden würde, dieses Individuum dazu treiben, triumphirend jeden Augenblick des allgemeinen Daseins gutzuheißen. Es käme eben darauf an, daß man diesen Grundcharakterzug bei sich als gut, werthvoll, mit Lust empfindet.
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Nun hat die Moral das Leben vor der Verzweiflung und dem Sprung in’s Nichts bei solchen Menschen und Ständen geschützt, welche von Menschen vergewaltthätigt und niedergedrückt wurden: denn die Ohnmacht gegen Menschen, nicht die Ohnmacht gegen die Natur, erzeugt die desperateste Verbitterung gegen das Dasein. Die Moral hat die Gewalthaber, die Gewaltthätigen, die »Herren« überhaupt als die Feinde behandelt, gegen welche der gemeine Mann geschützt, das heißt zunächst ermuthigt, gestärkt werden muß. Die Moral hat folglich am tiefsten hassen und verachten gelehrt was der Grundcharakterzug der Herrschenden ist: ihren Willen zur Macht . Diese Moral abschaffen, leugnen, zersetzen: das wäre den bestgehaßten Trieb mit einer umgekehrten Empfindung und Werthung ansehen. Wenn der Leidende, Unterdrückte den Glauben verlöre , ein Recht zu seiner Verachtung des Willens zur Macht zu haben, so träte er in das Stadium der hoffnungslosen Desperation. Dies wäre der Fall, wenn dieser Zug dem Leben essentiell wäre, wenn sich ergäbe, daß selbst in jenem Willen zur Moral nur dieser »Wille zur Macht« verkappt sei, daß auch jenes Hassen und Verachten noch ein Machtwille ist. Der Unterdrückte sähe ein, daß er mit dem Unterdrücker auf gleichem Boden steht und daß er kein Vorrecht , keinen höheren Rang vor Jenem habe.
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