Lou Andreas-Salomé - Friedrich Nietzsche in seinen Werken

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Lou Andreas-Salomé

Friedrich Nietzsche in seinen Werken

Nicht Willens mich auseinanderzusetzen, weder mit dem inzwischen veröffentlichten Nachlaß Nietzsches, noch mit Andern über Nietzsche, lasse ich diese Schrift in unverändertem (anastatischem) Druck neu auflegen.

Lou Andreas-Salomé.

[Die »Bitte« in der »Fröhlichen Wissenschaft«, auf welche in dem vorstehend facsimilirten Briefe Bezug genommen ist, lautet:

»Ich kenne mancher Menschen Sinn
Und weiss nicht, "Wer ich selber bin!
Mein Auge ist mir viel zu nah —
Ich bin nicht, was ich seh und sah.
Ich wollte mir schon besser nützen,
Könnt' ich mir selber ferner sitzen.
Zwar nicht so ferne wie mein Feind!
Zu fern sitzt schon der nächste Freund —
Doch zwischen dem und mir die Mitte!
Errathet ihr, um was ich bitte?«

(Scherz, List und Rache 25.)]

I. ABSCHNITT

SEIN WESEN

MOTTO:
»Der Mensch mag sich noch so
weit mit seiner Erkenntniss ausrecken,
sich selber noch so objectiv Vorkommen:
zuletzt trägt er doch Nichts davon,
als seine eigene Biographie.«
(Menschliches, Allzumenschliches I. 513.)

»Mihi ipsi scripsi!« ruft Friedrich Nietzsche in seinen Briefen wiederholt nach Vollendung eines Werkes aus. Und gewiss hat es etwas zu bedeuten, wenn der erste lebende Stilist dies von sich selber sagt, er, dem es, wie keinem Zweiten, gelungen ist, für jeden seiner Gedanken, und noch für die feinste Schattirung darin, den erschöpfenden Ausdruck zu finden. Dem, der Nietzsches Schriften zu lesen weiss, ist es denn auch ein verrätherisches Wort: es deutet die Verborgenheit an, in welcher alle seine Gedanken stehen, die lebendige Hülle, die sie vielgestaltig umkleidet, es deutet an, dass er im Grunde nur für sich dachte, für sich schrieb, weil er nur sich selbst beschrieb, sein eignes Selbst in Gedanken umsetzte.

Wenn es überhaupt die Aufgabe des Biographen ist, den Denker durch den Menschen zu erläutern, so gilt dies in ungewöhnlich hohem Masse für Nietzsche, denn bei keinem Andern fallen äusseres Geisteswerk und inneres Lebensbild so völlig in Eins zusammen. Auf ihn trifft es ganz besonders zu, was er in dem vorangestellten Briefe von den Philosophen überhaupt ausspricht: dass man ihre Systeme auf die Personalacten ihrer Urheber hin prüfen solle. Später hat er der gleichen Auffassung in den Worten Ausdruck gegeben: »Allmählig hat sich mir herausgestellt, was jede grosse Philosophie bisher war: nämlich das Selbstbekenntniss ihres Urhebers und eine Art ungewollter und unvermerkter mémoires.« (Jenseits von Gut und Böse 6.)

Dies war denn auch der leitende Gedanke in meinem in dem vorstehenden Briefe erwähnten Entwurf zu einer Charakteristik Nietzsches, den ich ihm im October 1882 vorlas und mit ihm durchsprach. Die Arbeit enthielt im Umriss den ersten Theil des vorliegenden Buches und einzelne Abschnitte des zweiten Theiles, – der Inhalt des dritten, das eigentliche »System Nietzsche« war damals noch nicht geboren. Im Laufe der Jahre erweiterte sich, im Anschlüsse an die rasch aufeinander folgenden Werke, jene Charakteristik immer mehr, und Einzelnes daraus ist bereits in besonderen Aufsätzen veröffentlicht worden. 1 1 Eine zusammenfassende Charakteristik Nietzsches, in der zum ersten Male die drei Perioden seiner geistigen Entwicklung unterschieden und bestimmt charakterisirt sind, erschien in der Sonntags-Beilage der Vossischen Zeitung 1891, Nr. 2, 3 und 4. Ausserdem brachte die »Freie Bühne« eingehendere Ausführungen einzelner Punkte unter dem Titel »Zum Bilde Friedrich Nietzsches, Jahrg. II (1891), Heft 3, 4 und 5, Jahrg. III (1892), Heft 3 und 5; das Magazin für Literatur 1892, October, »Ein Apokalyptiker«; Der Zeitgeist 1893, Nr. 20, »Ideal und Askese«. Es handelte sich für mich ausschliesslich darum, die Hauptzüge von Nietzsches geistiger Eigenart zu schildern, aus denen allein seine Philosophie und ihre Entwicklung begriffen werden können. Zu diesem Zwecke beschränkte ich mich freiwillig sowohl nach der Seite der rein theoretischen Betrachtungsweise, als auch hinsichtlich der rein persönlichen Lebensbeschreibung. Beides durfte nicht zu weit geführt werden, wenn die Grundlinien seines Wesens deutlich hervortreten sollten. Wer Nietzsche auf seine Bedeutung als Theoretiker hin prüfen wollte, auf das, was etwa die zünftige Philosophie aus ihm zu lernen vermöchte, der würde sich enttäuscht abwenden, ohne zum Kern seiner Bedeutung vorzudringen. Denn der Werth seiner Gedanken liegt nicht in ihrer theoretischen Originalität, nicht in dem, was dialektisch begründet oder widerlegt werden kann, sondern durchaus in der intimen Gewalt, mit welcher hier eine Persönlichkeit zur Persönlichkeit redet, – in dem, was nach seinem eigenen Ausdruck wohl zu widerlegen, aber doch nicht »todtzumachen« ist. Wer andererseits von Nietzsches äusserem Erleben ausgehen wollte, um sein Inneres zu erfassen, der würde ebenfalls nur eine leere Schale in der Hand behalten, aus welcher der Geist entwichen ist. Denn man kann von Nietzsche sagen, dass er nach aussen hin eigentlich nichts erlebte: 2 2 Was das Leben – , die sogenannten »Erlebnisse« angeht, – wer von uns hat dafür auch nur Ernst genug? Oder Zeit genug? Bei solchen Sachen waren wir, fürchte ich, nie recht »bei der Sache«, wir haben eben unser Herz nicht dort – und nicht einmal unser Ohr!« (Zur Genealogie der Moral, Vorrede III.) all sein Erleben war ein so tief innerliches, dass es sich nur im Gespräch, von Mund zu Mund, und in den Gedanken seiner Werke kundthat. Die Summe von Monologen, aus denen im Wesentlichen seine vielbändigen Aphorismensammlungen bestehen, bilden ein einziges grosses Memoirenwerk, dem sein Geistesbild zu Grunde liegt. Dieses Bild ist es, das ich hier zu zeichnen versuche: das Gedanken-Erlebniss in seiner Bedeutung für Nietzsches Geisteswesen – das Selbstbekenntniss in seiner Philosophie.

Obgleich Nietzsche seit einigen Jahren häufiger genannt wird als irgend ein anderer Denker, obgleich viele Federn damit beschäftigt sind, theils Jünger für ihn zu werben, theils gegen ihn zu polemisiren, so ist er doch in den Grundzügen seiner geistigen Individualität nahezu unbekannt geblieben. Denn seitdem die kleine, zerstreute Schaar seiner Leser, die er stets besass, und die ihn wahrhaft zu lesen verstand, zu einer grossen Schaar von Anhängern angewachsen ist, seitdem weite Kreise sich seiner bemächtigt haben, ist ihm das Schicksal widerfahren, welches jedem Aphoristiker droht; einzelne seiner Ideen, aus dem Zusammenhang gelöst und dadurch beliebig deutbar, sind zu Stich- und Schlagworten ganzer Richtungen gemacht worden, erklingen im Kampf von Meinungen, im Streit von Parteien, denen er selbst völlig fern stand. Wohl verdankt er diesem Umstand seinen raschen Ruhm, den plötzlichen Lärm um seinen stillen Namen, – aber im Besten, durchaus Einzigartigen und Unvergleichlichen, das er zu geben hat, ist er dadurch vielleicht übersehen worden und unbeachtet geblieben, – ja in eine vielleicht noch tiefere Verborgenheit zurückgetreten als vorher. Viele feiern ihn zwar noch laut, mit der ganzen Naivetät gläubiger Kritiklosigkeit, doch gerade sie gemahnen unwillkürlich an sein bitteres Wort: Der Enttäuschte spricht: »Ich horchte auf Widerhall, und ich. hörte nur Lob – « (Jenseits von Gut und Böse 99). Kaum Einer von ihnen ist ihm wahrhaft nachgegangen, – fernab von den Andern und ihrem Tagesstreit und allein in der Ergriffenheit seines eigenen Innern; kaum Einer hat diesen einsamen, schwer ergründlichen, heimlichen und auch unheimlichen Geist begleitet, der Ungeheures zu tragen wähnte und an einem ungeheuren Wahn zusammenbrach.

Daher ist es, als stände er da inmitten derer, die ihn am meisten preisen, wie ein Fremdling und Einsiedler, dessen Fuss sich in ihren Kreis nur verirrte, und von dessen verhüllter Gestalt Keiner den Mantel gehoben, – ja, als stände er da mit der Klage seines »Zarathustra« auf den Lippen:

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