Das Krankhafte an Rousseau am meisten bewundert und nachgeahmt . (Lord Byron ihm verwandt; auch sich zu erhabenen Attitüden aufschraubend, zum rancunösen Groll; Zeichen der »Gemeinheit«; später, durch Venedig in’s Gleichgewicht gebracht, begriff er, was mehr erleichtert und wohlthut , … l’insouciance.)
Rousseau ist stolz in Hinsicht aus Das, was er ist, trotz seiner Herkunft; aber er geräth außer sich, wenn man ihn daran erinnert…
Bei Rousseau unzweifelhaft die Geistesstörung , bei Voltaire eine ungewöhnliche Gesundheit und Leichtigkeit. Die Rancune des Kranken ; die Zeiten seines Irrsinns auch die seiner Menschenverachtung und seines Mißtrauens.
Die Vertheidigung der Providenz durch Rousseau (gegen den Pessimismus Voltaire’s): er brauchte Gott, um den Fluch auf die Gesellschaft und die Civilisation werfen zu können; Alles mußte an sich gut sein, da Gott es geschaffen; nur der Mensch hat den Menschen verdorben . Der »gute Mensch« als Naturmensch war eine reine Phantasie; aber mit dem Dogma von der Autorschaft Gottes etwas Wahrscheinliches und Begründetes.
Romantik à la Rousseau : die Leidenschaft (»das souveräne Recht der Passion«); die »Natürlichkeit«; die Fascination der Verrücktheit (die Narrheit zur Größe gerechnet); die unsinnige Eitelkeit des Schwachen; die Pöbel-Rancune als Richterin (»in der Politik hat man seit hundert Jahren einen Kranken als Führer genommen«)
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101.
Kant : macht den erkenntnißtheoretischen Skepticismus der Engländer möglich für Deutsche:
1) indem er die moralischen und religiösen Bedürfnisse der Deutschen für denselben interessirt: so wie aus gleichem Grunde die neueren Akademiker die Skepsis benutzten als Vorbereitung für den Platonismus (vide Augustin); so wie Pascal sogar die moralistische Skepsis benutzte, um das Bedürfniß nach Glauben zu excitiren (»zu rechtfertigen«);
2) indem er ihn scholastisch verschnörkelte und verkräuselte und dadurch dem wissenschaftlichen Form-Geschmack der Deutschen annehmbar machte (denn Locke und Hume an sich waren zu hell, zu klar, d. h. nach deutschen Werthinstinkten geurtheilt »zu oberflächlich« –).
Kant: ein geringer Psycholog und Menschenkenner; grob fehlgreifend in Hinsicht auf große historische Werthe (französische Revolution); Moral-Fanatiker à la Rousseau; mit unterirdischer Christlichkeit der Werthe; Dogmatiker durch und durch, aber mit einem schwerfälligen Überdruß an diesem Hang, bis zum Wunsche, ihn zu tyrannisiren, aber auch der Skepsis sofort müde; noch von keinem Hauche kosmopolitischen Geschmacks und antiker Schönheit angeweht … ein Verzögerer und Vermittler , nichts Originelles (– so wie Leibnitz zwischen Mechanik und Spiritualismus, wie Goethe zwischen dem Geschmack des 18. Jahrhunderts und dem des »historischen Sinnes« (– der wesentlich ein Sinn des Exotismus ist), wie die deutsche Musik zwischen französischer und italienischer Musik, wie Karl der Große zwischen imperium Romanum und Nationalismus vermittelte, überbrückte, – Verzögerer par excellence ).
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102.
Inwiefern die christlichen Jahrhunderte mit ihrem Pessimismus stärkere Jahrhunderte waren als das 18. Jahrhundert – entsprechend das tragische Zeitalter der Griechen –.
Das 19. Jahrhundert gegen das 18. Jahrhundert. Worin Erbe, – worin Rückgang gegen dasselbe (: »geist«loser, geschmackloser), – worin Fortschritt über dasselbe (: düsterer, realistischer, stärker).
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103.
Was bedeutet daß, daß wir die Campagna romana nachfühlen? Und das Hochgebirge? Chateaubriand 1803 in einem Brief an M. de Fontanes giebt den ersten Eindruck der Campagna romana .
Der Präsident de Brosses sagt von der Campagna romana: «il fallait que Romulus fût ivre, quand il sougea à bâtir une ville dans un terrain aussi laid.«
Auch Delacroix wollte Rom nicht, es machte ihm Furcht. Er schwärmte für Venedig, wie Shakespeare, wie Byron, wie George Sand. Die Abneigung gegen Rom auch bei Theoph. Gautier – und bei Rich. Wagner.
Lamartine hat für Sorrent und den Posilipp die Sprache –
Victor Hugo schwärmt für Spanien, »parce que aucune autre nation n’a moins emprunté à l’antiquité, parce qu’elle n’a subi aucune influence classique.«
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104.
Die beiden großen Tentativen , die gemacht worden sind, das 18. Jahrhundert zu überwinden:
Napoleon , indem er den Mann, den Soldaten und den großen Kampf um Macht wieder aufweckte – Europa als politische Einheit concipirend;
Goethe , indem er eine europäische Cultur imaginirte, die die volle Erbschaft der schon erreichten Humanität macht.
Die deutsche Cultur dieses Jahrhunderts erweckt Mißtrauen – in der Musik fehlt jenes volle, erlösende und bindende Element Goethe –
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105.
Das Übergewicht der Musik in den Romantikern von 1830 und 1840. Delacroix. Ingres, ein leidenschaftltcher Musiker (Cultus für Gluck, Haydn, Beethoven, Mozart) sagte seinen Schülern in Rom »si je pouvais vous rendre tous musiciens, vous y gagneriez comme peintres« –; insgleichen Horace Vernet, mit einer besonderen Leidenschaft für den Don Juan (wie Mendelssohn bezeugt 1831); insgleichen Stendhal, der von sich sagt: Combien de lieues ne ferais-je pas à pied, et à combien de jours de prison ne me soumetterais-je pas pour entendre *Don Juan ou le Matrimonio segreto ; et je ne sais pour quelle autre chose je ferais cet effort.* Damals war er 56 Jahre alt.
Die entliehenen Formen, z. B. Brahms als typischer »Epigone«, Mendelssohn’s gebildeter Protestantismus ebenfalls (eine frühere »Seele« wird nach gedichtet …)
– die moralischen und poetischen Substitutionen bei Wagner, die eine Kunst als Nothbehelf für Mängel in der anderen,
– der »historische Sinn«, die Inspiration durch Dichten, Sagen,
– jene typische Verwandlung, für die unter Franzosen G. Flaubert, unter Deutschen Richard Wagner das deutlichste Beispiel ist, wie der romantische Glaube an die Liebe und die Zukunft in das Verlangen zum Nichts sich verwandelt, 1830 in 1850.
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