Und wenn schon. Es war nett, dass mal wieder jemand mit mir geflirtet hat. Dass jemand sexuelles Interesse an mir gezeigt hat – auch wenn es mich ein bisschen überfordert hat. Ist doch nichts Verwerfliches, dass ich mich begehrt fühlen möchte – oder?
Bevor ich weiter darüber nachdenken kann, tippe ich die abgedruckte Telefonnummer ins Handy, die mir das System schon nach wenigen Ziffern vorschlägt. Zuletzt vor dreizehn Tagen gewählt.
Na, wenn das kein Zeichen ist. Wahrscheinlich arbeitet der Fahrer vom letzten Mal heute gar nicht.
26 Minuten später klingelt mein Handy. Die angezeigte Handynummer kenne ich nicht und sie ist auch nicht eingespeichert, trotzdem macht mein Herz einen Satz hoch in meinen Hals und mir das Atmen plötzlich schwer.
»Hallo?« Jetzt halte ich ganz die Luft an. Wie viele Fahrer beschäftigt Tonis Trattoria wohl?
»Hi.« Seine angenehm dunkle Stimme vibriert in meinem Ohr. Mein Herz rutscht zurück an seinen Platz und hämmert in wildem Stakkato in meiner Brust weiter. »Du hast Pizza bestellt?«
Oh Gott. Wie kann eine so simple Frage so verflucht zweideutig klingen?
»Ähm, ja.«
»Super. Lässt du mich rein?«
»Ja. Sekunde.«
»Keine Eile.«
Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt, um aufzulegen. Von meinem Schreibtisch im ersten Stock sind es keine zwei Minuten nach unten zur Eingangstür. Trotzdem halte ich mir das Handy weiterhin ans Ohr, während ich den Co-Working-Space durchquere. Nebenbei überzeuge ich mich davon, dass ich inzwischen wirklich allein bin.
Auch er legt nicht auf. Im Hintergrund höre ich ein Auto vorbeifahren.
»Fährst du jede Nacht Pizzen aus?«, frage ich, bevor das Schweigen zu seltsam wird.
Es gibt keine Garantie. Ich habe nicht automatisch in Sex eingewilligt, nur weil ich noch mal bei Tonis Trattoria bestellt habe. Außerdem ist es früher am Abend als letztes Mal. Wahrscheinlich bin ich heute nicht seine letzte Pizza.
»Nicht jede. Du hast Glück.« Sein Grinsen ist deutlich durch das Handy zu hören und beschert mir ein wohliges Kribbeln.
»Hab ich?«
»Jepp. Siggi, der andere Fahrer, nutzt jede Ausfahrt für ein ausgiebiges Zigarettenpäuschen. Bei ihm würde der Karton entweder krass nach Rauch stinken oder die Pizza wäre nur noch lauwarm – würde aber natürlich genauso gut schmecken.«
»Und bei dir ist die Pizza... heiß?«
Ich habe wirklich keine Ahnung, wo das hergekommen ist, aber sein leises Lachen macht mir Mut.
Oh Mann. Vielleicht habe ich doch nicht nur Pizza bestellt.
»Im besten Fall, ja.«
Ich erreiche das Erdgeschoss und kann ihn bereits durch die große Glasfront an der Eingangstür lehnen sehen. Das Licht neben der Tür ist durch den Bewegungsmelder angesprungen und wirft einen warmen Schimmer auf seine athletische Gestalt in der braunen Jacke. Ein paar Schritte von ihm entfernt steht ein Roller mit Warmhaltebox auf dem Bürgersteig. Dunkle Augen blitzen mir entgegen und meine Beine werden mit jedem Schritt wackeliger, während mein Schwanz heftig pocht.
Hierbei ging es nie um Pizza.
Heilige...!
Erst an der Eingangstür nehme ich das Handy runter, beende den Anruf und schiebe das Smartphone in meine Hosentasche. Er tut es mir gleich, dann ziehe ich die Tür auf.
»Hi«, sagt er noch mal. Sein Lächeln ist umwerfend, auch wenn er leicht irritiert den Kopf schief legt. »Wieder eine Nachtschicht?«
»Sieht so aus.«
»Hm.« Er reicht mir den Pizzakarton, den er in der Hand hält. »Deine Pizza. Bezahlt ist schon.«
»Ich weiß. Oh, Mist.« Hitze schießt mir in die Wangen. »Ich habe dein Trinkgeld oben liegen lassen.«
Er winkt ab. »Nicht schlimm. Die Fahrt hat sich trotzdem gelohnt.«
Und jetzt wäre der richtige Zeitpunkt, sich von ihm zu verabschieden, die Pizza mit nach oben zu nehmen und sie an meinem Schreibtisch zu essen.
Im Dunkeln. Allein.
»Wenn...« Ich räuspere mich und muss noch mal ansetzen. »Wenn du kurz Zeit hast, könntest du mit hochkommen. Dann gebe ich dir das Trinkgeld da.«
Ein Grinsen umspielt seine Mundwinkel. »Oh, ich hab die ganze Nacht Zeit. Du bist meine letzte Pizza für heute.«
»Sch...schon wieder?«
Er zuckt die Schultern. »Hab mich mit Siggi arrangiert, weil ich auf alles vorbereitet sein wollte.«
»Oh. Okay. Gut. Aber das dauert höchstens fünf Minuten. Das Trinkgeld zu holen, meine ich.«
Er runzelt die Stirn. »Jetzt bin ich verwirrt. Reden wir hier wirklich übers Trinkgeld?«
Hilflos klammere ich mich an den Pizzakarton und atme tief durch. So viele Zufälle spielen mir in die Hände, er hat mir deutlich sein Interesse gezeigt und trotzdem stehe ich immer noch hier und zögere?
»Ich... denke nicht.«
»Du denkst?«
»Manchmal zu viel, ja.«
Er lacht, aber es klingt nicht böse oder abfällig. Es ist sogar ziemlich ansteckend und ich merke, wie ein Teil der Anspannung von mir abfällt.
»Merkt man gar nicht. Also – soll ich reinkommen oder wieder fahren? Oder gehen wir woanders hin?«
Ich weiß sofort, dass ich einen Rückzieher machen werde, wenn wir erst noch durch halb München gondeln, und schüttle den Kopf. »Nein. Komm rein.«
Ich mache einen Schritt zur Seite und lasse ihn eintreten, bevor ich die Eingangstür zuziehe und sichergehe, dass sie verschlossen ist. Um diese Uhrzeit kann man sie nur noch von innen öffnen oder mit der elektronischen Schlüsselkarte, die allen Langzeit-Co-Workern ausgehändigt wird.
Als ich mich wieder dem Pizzaboten zuwende, lehnt er sich vor und streift mit seinen Lippen meine. Die Berührung ist zaghaft, beinahe fragend, doch meine Haut beginnt zu kribbeln, als wäre es ein leidenschaftlicher Zungenkuss. Dabei fasst er mich nirgendwo sonst an und steht noch einen guten halben Meter von mir entfernt.
»Hätte nicht gedacht, dass du mich noch reinbittest«, sagt er leise, während er den Reißverschluss seiner Jacke öffnet.
»Tja.« Was Besseres fällt mir nicht ein. In meinem Kopf existieren keine sinnvollen Gedanken mehr, nur noch das Echo meines hämmernden Herzschlags.
»Wohin?«
»Nach oben?« Es hört sich wie eine Frage an, obwohl zweifellos ich derjenige bin, der sich hier besser auskennt – allerdings nicht, wenn es um den besten Platz für Quickies geht.
Ein halbes Achselzucken, das wohl Zustimmung bedeutet. »Klingt gut. Bist du wieder allein?« Als ich nicke, greift er nach einer meiner Hände am Pizzakarton und umschließt sie mit seiner. »Dann ist doch alles super. Kein Grund, so nervös zu sein.«
Er hat gut reden. Auch wenn er das hier laut eigener Aussage normalerweise nicht macht, hat er garantiert regelmäßiger Sex als ich. Wer so selbstsicher und charmant auftritt und noch dazu so attraktiv ist, bekommt bestimmt am laufenden Band Bestätigung.
Ich lasse mich von ihm die Treppe in den ersten Stock führen, auch wenn sich das wie verkehrte Welt anfühlt. Das hier ist mein Arbeitsplatz. Müsste ich da nicht das Kommando übernehmen?
Andererseits fühlt es sich himmlisch an, dass er es macht. Nicht nachdenken. Einfach folgen.
Bis wir den Loungebereich in der Mitte des Co-Working-Space erreichen und er sich zu mir umdreht, um mir den Pizzakarton aus der Hand zu nehmen und auf den Tisch zu stellen.
»Die gibt's später.« Grinsend legt er eine Hand an meine Hüfte und zieht mich an sich. In derselben Bewegung kommt er mir entgegen und schon liegt sein Mund auf meinem – fester, fordernder, erregender als unten am Eingang.
Blut rauscht durch meinen Körper und sammelt sich so schnell in meinem Schritt, dass ich nach Luft schnappe. Da wir dicht voreinander stehen, merkt er es auch. Er stöhnt leise in den Kuss und legt die zweite Hand in meinen Nacken, um mich festzuhalten, während er seine Zunge um meine tanzen lässt.
Читать дальше