Nun spielt er sich als Führer durch sein museales Gerümpel auf, und wir steigen und stolpern ihm hinterher. Es sind viele Räume, durch die wir uns hindurchkämpfen müssen. Einer davon ist ebenerdig und unter anderem mit mindestens zwanzig vorsintflutlichen Fahrrädern mit Karbidlampen und eigenartigen Lenkern vollgestopft. Die Räder hängen teils von der Decke herab, teils sind sie eng aneinandergereiht, sogar ein gewaltiges, rostiges Hochrad ist darunter.
»Damit bin ich als Attraktion beim letzten Faschingszug mitgefahren, leider bei strömendem Regen.«
Ein weiterer Raum ist mit alten Pferdeschlitten angefüllt. Dann geht es über die Treppe nach oben. Doch das ist leichter gesagt als getan. Denn bereits auf den Stufen lagern viele seiner einmaligen, stolzen Sammlerstücke, vom alten Gramola mit Schalltrichter über die aufgestapelten Schellackplatten bis zu Kartons mit mundgeblasenen und handbemalten Christbaumkugeln. Schon die Verpackung ist einzigartig und mit historischen Bildern vom weißbärtigen Nikolaus mit Rute bis hin zum strahlenden Christkindlein und bunten Schrifttypen aus der Jugendstilzeit bedeckt. Im Vorbeigehen zieht er den Gramola-Kasten, auf und schon erklingt es kratzig: »Lasst uns froh und munter sein und uns recht von Herzen freu’n! Lustig, lustig, tralalalala! Bald ist Nik’lausabend da, bald ist Nik’lausabend da!« Der schöne, leider zu späte Gesang ist erst viel zu schnell und dann wird er immer langsamer, bis dem alten Kasten der Atem ausgeht. Wir aber stolpern weiter.
»Vorsicht«, schreit der Martl sofort ängstlich, als der Marcel so einen seltenen Karton mit Christbaumkugeln beim Vorbeisteigen streift. Dann kommen wir in einen Raum im ersten Stock. Das heißt, wir kommen überhaupt nicht richtig hinein. Aber wir stehen am Anfang eines pyramidal gestapelten, historischen Gerümpels. Alte, wurmstichige Möbelstücke, Regale mit Lexikonbänden aus dem vorvorigen Jahrhundert und Hutschachteln aus der Zylinderzeit sind hier bis unter die Decke aufgetürmt. Dann geht es wieder vorsichtig zu unseren versteckten Sitzplätzen zurück.
»Weil ich meine historischen Schnäppchen in den anderen Zimmern noch nicht ganz aufgeräumt habe«, meint der Freund ernsthaft.
Eingeengt, aber fröhlich feiern wir dann bis über Mitternacht hinaus, und der Martl hat für jeden von uns noch ein eigenartig unbrauchbares Weihnachtsgeschenk aus einem Fundus, den er eigentlich zum Sammelmüll geben müsste. Wir bedanken uns abschließend aus vollem Herzen und vollem Alkoholpegel beim Herrn Museumsdirektor. Draußen rieselt es leise vom Himmel herab. Die feinen weißen Flocken glänzen kurz im Licht, das aus der Türe fällt und uns sozusagen heimleuchtet.
Die staade Zeit
Weihnachten naht wieder, es steht schon fast vor der Tür. Da wird es oft recht anstrengend. Der Pressefotograf in der Provinz hat es jetzt nicht leicht. Besonders vor den eigentlich beschaulichen Festtagen, wenn die feierliche Hektik um sich greift.
»Auf geht’s – Fotoshooting! Advent, Advent, ein Lichtlein brennt. Heute machen wir Rosenverteilen im Altenheim, morgen ist Volkstanz auf der Bühne vom Weihnachtsmarkt«, wird er zum Fotografieren aufgefordert. Knapp wird das schon bis zum Fest. Und immer geht auch nicht alles ganz glatt.
Neulich zum Beispiel, beim neunzigsten Geburtstag von der quirligen Frau Schmied.
Der Bürgermeister: »So, Frau Schmied, dann gratuliere ich Ihnen recht herzlich zum Neunzigsten und möchte mich mit Ihnen etwas unterhalten.«
Die rüstige Frau: »Wenn Sie meinen. Eigentlich spreche ich ja am liebsten mit mir selber. Wissen Sie, ich spreche nicht gerne mit noch wichtigeren Leuten.«
Der Herr Bürgermeister, etwas beleidigt: »Ja, die Frau Schmied wieder, gell. Immer einen Spaß machen, und das in diesem stolzen Alter! Was wünschen Sie sich denn zum Geburtsehrentag? Ich habe für Sie einen Geschenkkorb mit einer Weihnachtslieder-CD und einer Flasche Weihnachtspunsch dabei. Außerdem hab ich ein Gemeindewappen aus Keramik, handbemalt, Knuspersachen und einen alten Stich von unserer Gemeinde, wie sie früher war, mitgebracht. Eine schöne Urkunde bekommen Sie ja sowieso.«
Die Frau Schmied nimmt die Musik-CD aus dem Korb. An erster Stelle steht der Weihnachtsschlager »Last Christmas«.
»Das ist mit Sicherheit nicht mein letztes Weihnachten«, trompetet sie erbost.
Der Bürgermeister kleinlaut: »Natürlich werden Sie bestimmt noch wesentlich älter.«
Dann schaut sie auf den alten Stich. »Da fehlt das neue Gewerbegebiet mit den hässlichen Käfighäusern, das Sie als Weihnachtsgeschenk für die Gemeinde hingezaubert haben.« Und dann meint sie noch nachdrücklich: »Das Liften können Sie mir bezahlen. Und ein Wellness-Wochenende in der Therme mit orientalischem Rasulbad.«
Der Herr Bürgermeister: »Ja, die Frau Schmied wieder, gell. Immer gut drauf. Aber sagen Sie, haben Sie da ein Rezept, wie man problemlos so alt wird? Oder wie man die Zeit etwas einbremsen kann?«
Die Frau Schmied: »Ja, freilich. Ich bin doch im Gegensatz zu Ihnen ein Teenager geblieben.«
Der Herr Bürgermeister: »Ha, das ist gut. Aber jetzt machen wir gleich ein schönes Foto für die Zeitung. Da werden alle schauen. Bitte schön! Her zu mir. Für unser Tagblatt.« Und schon streckt er seine markante Birne vor, grinst und gibt das Zeichen zum Fotografen hinüber.
Die Frau Schmied: »Haben Sie Jubiläum oder ich? Ich glaube es reicht, wenn ich auf dem Bild bin. Sie sind ja oft genug in der Zeitung, oder?«
Der Herr Bürgermeister: »Ja, die Frau Schmied wieder, gell. Immer gut drauf.« (In Wirklichkeit kocht er bereits und beherrscht sich nur mühsam.) »Auch recht, ich muss sowieso gleich weg, Weihnachtsfeier, Veteranentreffen, Feuerwehrjubiläum, anzapfen. Ich werde ja überall gebraucht!« Im Hinausgehen flüstert er noch leise, aber total verärgert: »Mich wundert es überhaupt nicht, dass die nie einen abgekriegt hat. So eine kann ja höchstens der Teufel heiraten.«
Doch gleich schreit die Frau Schmied, die mit dem neuen Hörgerät wieder hervorragend hört: »Ehe unter Geschwistern ist verboten, wissen Sie das noch nicht!?«
Total genervt und mit tiefgefrorenem Grinsen sucht der gute Mann schnell das Weite. Es eilt. Die Weihnachtsfeier ist schon voll im Gang. Endlich ist er wieder in friedlicher Umgebung, seine Frau hebt das Glas, und sie prosten sich fröhlich zu. Gerade tragen zwei Arbeiter vom Bauhof einen Geschenkscheck für den Faschingsverein herein. Er ist auf zwei mal drei Meter vergrößert. Die elektrischen Kerzen am Christbaum leuchten feierlich. Die örtliche Brauerei hat zwei Fässer Weihnachtsbockbier gespendet. Der Herr Bürgermeister zapft an! Das beherrscht er super, der Herr Bürgermeister. Da geht kein Spritzer daneben. Höchstens zwei, drei Schläge, und der Zapfhahn sitzt. Dann wird es endlich auch für ihn total gemütlich und entspannt. Der Stress lässt nach. Auf der Bühne wird es lebendig. Der Männergesangsverein hat nicht nur die schönsten Weihnachtslieder einstudiert, es erklingen auch viele Weisen und Glanznummern aus dem Repertoire des Chores: »Frisch auf die Jagd hinaus, lasset die Hunde aus« und »In einem kühlen Grunde, da steht ein Mühlenrad«.
Zu fortgeschrittener Stunde – das gute Weihnachtsbockbier geht zur Neige – werden die gespendeten Geschenke verteilt. Entspannung und Frieden sind eingekehrt. Der Herr Bürgermeister stimmt mit einer kurzen, festlichen Ansprache auf die feierlichen Tage ein. Er warnt auch: »Lasst zum Heimweg eure Frauen an das Steuer. Seid Beifahrer. Frohe Weihnachten!«
Draußen ist es glatt geworden. Der Regen hat aufgehört, und ein paar Kältegrade haben sich eingestellt. Unterwegs zur häuslichen Wohnstätte rutscht das Auto erst in Schlangenlinien dahin und dann von der Fahrbahn in den Straßengraben. Zufällig kommt ein Polizeiauto des Wegs. Die Beamten sind sehr freundlich, aber sie bemerken leider sehr schnell, dass die gute Frau mit erheblichen Promille am Steuer sitzt. Die nächste Zeit braucht sie nicht mehr zu fahren.
Читать дальше