Als ich im Essensbereich ankomme, sind die meisten anderen Patienten bereits auf den Beinen. Die meisten hier könnten meine Eltern sein oder sogar noch eine Generation darüber. Sie grüßen mich wie jeden Morgen, die einen freundlich, die anderen noch so betäubt von der Nacht wie ich. In der Cafeteria hole ich mir eine heiße Schokolade, sie erinnert mich an zu Hause. Bei jedem Schluck der süßen Milch denke ich an Christin und an Spike, den ich leider nicht retten konnte. Ich denke an so vieles.
An einen leeren Tisch, ziemlich weit in der Ecke des Raumes, setze ich mich auf einen der orangefarbenen Plastikstühle und schaue mir die Leute an. Dieser Essenssaal ist für die Personen der Psychotraumatologie. Jeder Bereich hat auch hier seine Farbe. Wenn mir jemand mit einem grünen Armband begegnet, weiß ich, er kommt aus dem psychosomatischen Bereich. Einen Menschen mit einem lila Armband werde ich wohl nie sehen. Das ist die geschlossene Abteilung. Arme Seelen, die den Verstand verloren haben, weil sie ihrem Land helfen wollten.
Ich befinde mich in einer militärischen Psychiatrie, die meisten hier sind früher einmal Soldaten gewesen – in Afghanistan oder dem Irak. Was diese Menschen an Leid gesehen oder selbst verursacht haben, wage ich mir nicht auszumalen. Man sieht es in ihren Gesichtern, bleich und leer. Sie hatten den Tod vor Augen, mehrere Male erlebt. Andere – wie ich – haben Verwandte oder Freunde beim Militär und die Chance bekommen, hier behandelt zu werden. Alle Menschen hier haben etwas erlebt, das sie nicht mehr loslässt, sie verfolgt, so wie mich. Schicksale, die das Leben schrieb. Ein Spiel, in dem nicht jeder ein As hatte oder den Joker zog.
Ich nehme einen weiteren Schluck aus meiner Tasse. In meinen Erinnerungen sehe ich Spike, wie er am Boden liegt und winselt. Ein weiterer Schluck. Klar und deutlich sehe ich die Drohung, die an meine Zimmerwand gesprüht war. Während dieses Szenarios vor meinem inneren Auge erscheint, setzt sich ein Mann, ich schätze ihn auf Mitte vierzig, diagonal an meinen Tisch. Er sieht ungepflegt aus, seine Haare stehen in jede erdenkliche Richtung ab. Seine Augen sind feuerrot. Die Falten in seinen Mundwinkeln zeigen: Er hat einiges wortlos ertragen. Mit zittriger Hand fängt er an, sein Müsli zu essen. Dann blickt er in meine Richtung, während ich einen großzügigen Schluck der flüssigen Schokolade in meinen Rachen gieße. Ich spüre seine starren Augen. Ich erwidere den Blick nicht.
„Du bist doch die eine, oder?“, fängt er an, mit rauer Müslistimme zu sprechen.
Ich schweige.
„Sollst so einiges erlebt haben“, nickt er nachdenklich.
Ich blicke in seine Richtung. „Ich glaube nicht, dass hier jemand ist, der nicht viel erlebt hat“, antworte ich ihm, stehe auf, stelle meine leere Tasse auf einen der Geschirrwagen und verlasse die Cafeteria. Lange halte ich es hier sowieso nie aus.
Jeder hier kennt mich als die eine. Die eine mit dem angeblich besonders schweren Schicksal. „Du Arme und du bist noch so jung.“ Wie oft habe ich diesen Satz in den letzten sechs Monaten von anderen Patienten gehört. Ich hasse ihn. Diese schockierten Blicke, als wäre man ein Unmensch. Mitleid braucht der Mensch nicht. Das gibt ihm nur das Gefühl, dass das Loch, in das er sich vergräbt, noch nicht tief genug ist. Es selbst nicht noch tiefer zu machen, ist schon schwer genug. Jeder Tag ist wie ein neuer Boxkampf – als Geschenk gibt es ein neues blaues Auge. Ich bin in dieses Leben hineingeboren worden. Nichts davon habe ich mir ausgesucht oder gewünscht. Ich will weder bemitleidet noch dafür bewundert werden. Ich will einfach sein, einfach leben. Doch einfach ist leider schwer.
Mein Wochenplan ist vollgepackt mit Einzeltherapie, Gruppentherapie und Kunsttherapie. Jeden Tag dasselbe Schema. Struktur, nennen die Therapeuten das. Ich sage dazu nur: „Und täglich grüßt das Murmeltier.“ Ich gehe zurück in meine Zelle, so wie ich diesen Raum bezeichne. Dort ziehe ich mir meine schwarzen Turnschuhe an. Wie fast jeden Morgen spaziere ich eine Runde durch den Klinikpark. Ich freue mich darauf, die letzten zwei Tage hatte es geregnet und ich musste drinnen bleiben.
Heute ist ein sonniger Frühlingsmorgen. Der Duft der noch feuchten Wiese und den darauf wachsenden Blumen steigt einem sofort in die Nase. Ich bin gerne hier. Hier habe ich das Gefühl, wieder mehr Mensch als Krankheit zu sein. Meine Augen sind empfindlicher gegenüber dem Sonnenlicht geworden, deshalb blendet es mich zu Anfang immer. An dieser Stelle macht sich auch meistens der Schwindel bemerkbar. Eine der unzähligen Nebenwirkung des Narkotikums und der Antidepressiva.
Sobald sich mein Sehnerv an die wärmenden Strahlen gewöhnt hat, laufe ich immer zum Teich, der das Herzstück in der Mitte des Parks ist. Ich lausche jedem einzelnen Schritt, den ich abseits des Weges über das Gras mache. Den geraden Weg gehen, war noch nie so mein Ding. Am Teich setze ich mich auf die etwas ältere, rostende Bank, die unter einem Kirschbaum steht. Ein Ritual, das mir wohl von früher geblieben ist, als ich, auch nach dem Tod meiner Eltern, immer wieder in den Park, zur exakt selben Parkbank gegangen bin. Die Vögel zwitschern, es ist verrückt, als wäre man für ein paar Minuten in einer anderen Welt. Die Sonne spiegelt das tiefblaue Wasser wider. Ich sehe eine Entenfamilie, die gerade darüber gleitet. Der erfrischende Wind weht durch meine Haare. Die wachsenden Blätter rascheln. Ich schließe meine Augen, lehne mich zurück und stelle mir vor, Christin würde neben mir sitzen und wir würden gemeinsam lachen, uns in den Arm, aber auch auf den Arm nehmen. Wie Geschwister das so tun. Eine fast schon zu normale Vorstellung. Wie gerne ich so etwas mit meiner Schwester teilen würde. Für einen kurzen Moment darf ich mich lebendig fühlen.
Das ändert sich nun, es heißt, Abschied nehmen von diesem befreienden Gefühl. Sechs Monate ist eine lange Zeit und dies ist erst die Hälfte. Dunkle Gedanken steigen wieder in den Kopf. So lange bin ich schon hier und meine Berggeister verfolgen mich noch immer. Langsam öffne ich meine Augen und erstarre wieder einmal fast vor Schreck, als Rachel und Drake wie Zombies vor mir stehen. Beide tragen die Kleidung, die sie trugen, als sie starben. Mein Herz rast, es schlägt mir bis zum Hals. Ich wende den Blick ab, stütze meine Ellbogen auf die Knie und nehme meine Hände vor das Gesicht.
„Lasst mich bitte in Ruhe. Bitte“, sage ich leise.
Der Anblick der beiden ist nur schwer zu ertragen. Die Wunde, die Rachel und Drake in mir zurückließen, hört gerade auf zu pochen und zu bluten, da fassen die beiden erneut hinein. Ein paar Minuten lang bleibe ich so sitzen, dann hebe ich langsam mein Haupt. Sie sind weg. Es ist wie Folter, dies immer und immer wieder auszuhalten zu müssen. Vorbei mit der Idylle und dem guten Gefühl. Ich stehe von der Bank auf und gehe den Weg zurück, da ich zur Einzeltherapie nicht zu spät kommen sollte.
„Wie fühlen Sie sich heute, Ms. Smith?“
„Nicht so gut“, sage ich bedrückt und mit gesenktem Kopf.
„Erzählen Sie mir davon“, sagt er erwartungsvoll, mir mit überkreuzten Beinen gegenübersitzend. Stift und Block hält er in den Händen, als würde er in den Startlöchern eines Marathons stehen und auf mein Zeichen warten, loszuschreiben. Wie jedes Mal ringe ich mit mir und der Frage: „Wie erzähle ich das nur?“
Nach kurzer Stille.
„Sie verfolgen mich immer noch. Heute Morgen, da habe ich … da habe ich die beiden sogar im Park gesehen. Sie standen einfach vor mir.“
„Wie sahen sie aus? Beschreiben Sie mir die beiden.“
„Sie sehen aus wie jedes Mal. So leer und tot, mit zerrissener Kleidung. Sie starren mich an. Ihre Gesichter sind so klar und deutlich zu erkennen, als wären sie wirklich da. Ich fühle mich nicht gut, wenn ich sie sehe.“
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