Den Begrenzungen bezüglich der Einwohnerzahl ebenso wie bezüglich der Definition dessen, was »Stadt« meint, muss natürlich Rechnung getragen werden. Es macht sicherlich wenig aus, ob man nun in einer »Stadt« mit 2500 Einwohnern oder in einem »Dorf« mit 1950 Einwohnern lebt. Entscheidend waren die Funktionen eines Ortes und seine Anbindung an die Infrastruktur. Und ein »Dorf« am Rande einer Großstadt hatte wenig mit einem Dorf gemeinsam, das Dutzende Kilometer von der nächsten größeren Stadt entfernt lag.
Der Prozess der Verstädterung ist eindeutiger, wenn man die Orte betrachtet, die als Großstädte bezeichnet werden. In solchen Städten mit 100 000 und mehr Einwohnern lebten 1871 nur knapp 5 Prozent der Deutschen, 1910 waren es bereits über 21 Prozent. Großstädte gab es zu Beginn des Betrachtungszeitraums ganze acht; am Ende waren es 48. Die bevölkerungsreichsten blieben allerdings jene, die bereits zu Beginn am größten waren: Berlin und Hamburg. 1871 folgten Breslau, Dresden, München; 1910 lautete die Reihenfolge München, Leipzig und Dresden. Auffällig ist ferner, dass Agglomerationen entstanden, also Ballungsräume mit dicht beieinanderliegenden (Groß-)Städten. Besonders sichtbar wurde das im Rhein-Ruhr-Gebiet, aber auch die Regionen um Berlin oder Hamburg, das Rhein-Main-Gebiet, Sachsen und das westliche Schlesien verstädterten zusehends.
Wie insgesamt in der Bevölkerungsentwicklung ist auch bei der Urbanisierung ein Ost-West-Unterschied auszumachen. Der Osten blieb ländlicher, besaß weniger Agglomerationsräume, und die Wege vom Dorf in die Stadt waren länger (mit Ausnahmen, versteht sich, z. B. Oberschlesien).
Die Städte wuchsen vor allem, weil sie Wanderungsgewinner waren – Migration führte am Ende häufig in die Stadt, da es dort mehr Arbeit gab und die Löhne höher ausfallen konnten. Ein weiterer und oft sehr gewichtiger Grund war verwaltungstechnischer Art: Eingemeindungen führten zu schlagartigem Wachstum. In Köln kamen z. B. in den Jahren 1888, 1910 und 1914 oder in Dresden 1897, 1902 und 1903 neue Stadtteile hinzu – das war typisch für alle Großstädte. Daher war der Ausbau der regionalen und städtischen Infrastruktur bedeutsam. Die Urbanisierung wurde damit unübersehbar. Jeder konnte sie im Alltag beobachten oder war selbst Teil davon.
Die Mobilität der Deutschen äußerte sich auch in häufigen Wohnungswechseln. Das zeigen beispielsweise hohe Umzugszahlen innerhalb von Städten. Die Familie des damals recht bekannten Schriftstellers Julius Lohmeyer (1835–1903), der aus dem schlesischen Neisse stammte, zog zwischen 1880 und 1903 acht Mal innerhalb des Großraums Berlin um. Noch häufiger zogen alleinstehende junge Männer und generell Angehörige der Unterschichten um; besonders in den schnell wachsenden Städten fehlte es überall an Wohnraum, und die Wohnverhältnisse waren mehr als beengt.
Städte waren Laboratorien des Zusammenlebens. In ihnen ergaben sich zahlreiche neue Möglichkeiten. Das betraf nicht allein die Aussicht auf Arbeitsplätze oder Ausbildungsmöglichkeiten und zivilgesellschaftliches Engagement – etwa in Parteien, Gewerkschaften oder Vereinen. Die Kommunen bemühten sich auch oft um bessere Lebensbedingungen und mehr Komfort im Alltag. Sie sorgten für zentrale Gas- und Wasserversorgungen, organisierten die Abfall- und Abwasserbeseitigung, verminderten die Staubentwicklung durch Besprengung der Straßen mit Wasser oder installierten Straßenlaternen. Auch boten Städte ein breiteres kulturelles Angebot, in dem für jeden Geldbeutel etwas dabei war. Aber sie bargen auch Probleme, die durch schnelles Wachstum entstanden waren, etwa mangelhafte Hygiene und Ernährung sowie bedenkliche Wohnbedingungen bzw. soziale Zustände. Die große Choleraepidemie in Hamburg 1892/93 mit 8600 Toten machte das drastisch klar. Hamburgs Frisch- und Abwassersystem war veraltet, und die engen Wohnverhältnisse in Hafennähe begünstigten die Verbreitung von ansteckenden Keimen. Zehn Tage nach dem Ausbruch der Krankheit wurde Robert Koch (1843–1910) in die Hansestadt entsandt und veranlasste dort umfangreiche Quarantänemaßnahmen, zu denen Schulschließungen und das Verbot von Versammlungen gehörten. Erst jetzt wurde in Hamburg der Vorläufer des heutigen Gesundheitsamts der Stadt gegründet, das Hygienische Institut. In dieser Hinsicht hinkte die Stadt der Reichsregierung gewaltig hinterher, die bereits 1876 das Kaiserliche Deutsche Gesundheitsamt ins Leben gerufen hatte, in das Robert Koch 1880 als Geheimer Rat berufen worden war. Es hatte beratende Funktion und sammelte zahlreiche gesundheitsrelevante Daten für das gesamte Reichsgebiet.
Die Urbanisierung war Teil der Binnenwanderung, die aber keineswegs nur in die Städte führte, sondern fast wie ein Kreislauf funktionierte. Sehr viele Menschen verließen im Kaiserreich ihren Geburtsort, um anderswo zu arbeiten und dort gegebenenfalls auch sesshaft zu werden. Viele kehrten aber auch wieder in ihre Heimat zurück. Es gab »Push-Faktoren«, also jene, die die Menschen vertrieben, und »Pull-Faktoren«, die zur Einwanderung in bestimmte Regionen verlockten. Man kann auch sagen, dass auf der einen Seite tatsächliche oder gefühlte Not und Perspektivlosigkeit, auf der anderen tatsächliche (oder gefühlte) Chancen und Perspektiven ausschlaggebend waren.
Beides wirkte bei den Wanderungsbewegungen zusammen. Wichtig war die Nahwanderung vom Land in die nächstgrößere Stadt bzw. in den nächsten Industrieort. Das hatte viel mit den Phänomenen zu tun, die auch für die Auswanderung verantwortlich waren, nämlich Armut, dem Mangel an gut bezahlten Arbeitsplätzen und allgemeiner Perspektivlosigkeit. Auch wenn bereits Bekannte oder Familienangehörige in die fragliche Stadt gezogen waren, mochte das den Aufbruch erleichtern. Dabei spielten der Ausbau der Eisenbahnverbindungen und die abnehmenden Fahrpreise ebenfalls eine Rolle.
Ein auffälliges und gut erforschtes Beispiel ist das Wachstum des Ruhrgebiets. Viele der dortigen Industriestädte verdankten ihr Wachstum der Nahwanderung aus der Umgebung – so wurden aus Dortmund und Essen Großstädte oder aus Industriedörfern Städte. Das Muster des Ruhrgebiets zeigte sich aber auch in vielen anderen Regionen: Generell wuchs die urbane Bevölkerung stärker als die Gesamtbevölkerung. Da die Geburtenraten in Städten teils abnahmen, ist überdeutlich, dass es sich dabei oft um Wanderungs- und Eingemeindungsgewinne handelte.
Generell verschob sich die Bevölkerung allmählich gen Westen. War zu Anfang der 1870er Jahre der Osten noch relativ bevölkerungsreicher als der Westen gewesen, kehrten sich die Verhältnisse alsbald um. Die Zuwachsraten waren ebenfalls unterschiedlich. Der Osten des Kaiserreichs wuchs langsamer als der Westen, d. h., mittelfristig wurde der Westen immer bedeutender. Deutschland (oder besser: die Deutschen) rückten westwärts.
Das zeigte sich schlaglichtartig bei einer Erfassung von Herkunftsregionen aus dem Jahr 1907: Ostdeutschland hatte fast 2 Millionen Menschen verloren. Leichte Verluste hatten Süddeutschland und Mitteldeutschland zu verzeichnen. Größter Nettogewinner war der Raum Berlin/Brandenburg mit einem Zuwachs von 1,2 Millionen Menschen. Westdeutschland war der nächstfolgende Gewinner mit einem Plus von etwa 640 000 Personen. Nordwestdeutschland und Hessen verbuchten leichte Zuwächse.
Zuerst wanderten eher gut ausgebildete Personen von Ost nach West, später waren es zunehmend Arbeiter. Die Ziele waren oft nach Herkunftsorten differenziert: Aus Pommern und Mecklenburg ging man eher in den Hamburger Raum; von den ostelbischen Provinzen aus wurde eher Berlin oder Sachsen angesteuert; seit den 1890er Jahren dann zunehmend das Ruhrgebiet. Während Arbeiter und Unterschichten wanderten, um überhaupt in Lohn und Brot zu kommen, weil es am Herkunftsort kaum und andernorts vermeintlich bessere Chancen gab, war die (zahlenmäßig allerdings sehr viel unbedeutendere) bürgerliche Wanderung oft unmittelbar mit sozialem Aufstieg verbunden.
Читать дальше