Das »Mysterium von der Zehnzahl des Einen« verlangt, daß auch unsere Welt die Sefira Keter beherbergt, die Ergießung der Krone, der Krone offenbarter Heiligkeit.
Es gibt Menschen auf unserer Welt, die unter der Kraft offenbarter Schönheit stehen. Ihr Gang ist ein anderer, und ihre Stimmen sind anders!
Ich sah Menschen, deren Seele strahlte vom Licht der Sefira Keter.
So teilt sich die Seele. Sie will das Licht der Ewigkeit aufnehmen und wandert durch den Kristall der Welten. Und hallt wider im Klang der Sefira, in der sie sich findet.
Und wisse, die Seele eines Kindes, das heute geboren ward, ist so alt wie die Seele eines Sterbenden. Und kommst du zur Feier anläßlich einer Geburt und du siehst, wie die Menschen sich freuen, so sage ihnen:
»Ihr Narren, worüber freut ihr euch?«
Und trittst du ins Haus, wo ein Verstorbener liegt, und du siehst die Trauernden auf der Erde sitzen, wie sie wehklagen, so sage ihnen:
»Ihr Narren, was trauert ihr?«
Denn der Mensch weiß nichts vom dunklen Geheimnis der Schöpfung.
Wenn du in eine Stadt kommst, so achte nicht auf ihre Mauern und hohen Türme: Sie sind ein Rauch, der vergeht.
Achte nicht auf ihre Menschen, die auf den Straßen laufen und sich eilen, als hätten sie zu tun: Das ist eitles Blendwerk.
Kommst du in eine Stadt, lege dich auf die Erde, presse dein Ohr an sie und höre, was die Stadt im geheimen spricht.
Und wisse, Benje hat in seiner Einfalt die verborgenen Dinge geschaut, er verstand die Millionen und Abermillionen Welten und den Namen:
Die Nacht war weit, kalt und über und über mit Sternen besät.
Reb Benje verließ sein Haus. Drinnen war es ihm diese Nacht zu finster und schwül. So ging er auf ein verlassenes Feld und setzte sich dort unter einen Baum.
Die Zweige hingen in langen Rutenbündeln über ihm, und Finsternis troff aus ihnen herab.
Eine geheime Stille entströmte der Erde, und Benje saß zerlumpt unter dem Baum, die Arme auf der Brust verschränkt.
Die Himmel flossen ineinander wie Wasser, sie waren eingehüllt in unermeßliche Kälte, und er, Reb Benje, sah:
Der Mond kreiste weiß und groß über den Himmel wie ein lautloses Rad.
Der Mond kam von einem Ende des Himmels geschwommen, und auf ihm saß eine Gestalt in weißem Gewand:
Der Erzengel Rafael!
Die Gestalt beugte sich über den Mond und blickte in die tiefe Finsternis am anderen Ende der Welt.
Und vom anderen Ende der Welt schwamm ein Stern herbei, der Mars, düster und rot, und Blut floß von ihm herab. Und auf dem Mars saß eine Gestalt in schwarzem Gewand:
Der Engelsfürst Metatron!
Die Gestalt beugte sich über den Stern und blickte in die große Helle am anderen Ende der Welt.
Klar und kalt war es zwischen den Himmeln, nicht das kleinste Wölkchen stand da, nicht das mindeste Geräusch war zu vernehmen, wie in einem Haus, wo seit langem niemand mehr wohnt.
Und dann prallten beide Himmelskörper aufeinander und versprühten in der ganzen Umgegend Lichtergarben und Klumpen von Feuer.
Die Welt brodelte im Haß!
Und ringsum vernahm man bitteres Weinen und lautes Frohlocken.
Benje fiel aufs Gesicht und spürte, wie ein Universum zerplatzte.
Es klagte über ihm.
Und plötzlich riß ihn etwas empor. Er hob den Kopf und staunte und sah: Weit in der Ferne kam über die Erde, aus tiefer Dunkelheit, ein hochgewachsener, lichter Mensch.
Er näherte sich mit stillen Tritten, sein Gang war leicht und mühelos. Und er ging geradewegs auf Benje zu, der seinen Kopf, von Angst erfüllt, erneut zur Erde sinken ließ.
Reb Benje spürte das Licht vom Gewand des hochgewachsenen Fremden und vernahm dessen schwerelosen Schritt.
Lautlos stieg jener über ihn hinweg.
Und als Reb Benje aufschauen und ihm den Saum seiner Kleider küssen wollte, vermochte er den schweren Kopf nicht zu heben, und mit dem Gesicht auf der Erde lachte er aus innerer Freude, denn eine dürre Sehnsucht umfing seine Seele wie warmer Atem.
Die ganze Nacht über lag Reb Benje so in der Kälte, ohne den Kopf zu heben.
Im Morgendämmer war er weiß und reifbedeckt wie ein frühmorgendlicher Zweig im Herbst.
Levi Pataschnik und seine Gäste
Spätabends verließ Pan Wrublewsky Levi Pataschniks Haus, er hatte ihm einen Wald zum Abholzen verkauft, jenen Wald, in dem Reb Simches Hütte stand.
Auf der Veranda traf der Pan Leah, Reb Levis Tochter. Leah erschrak, denn der Pan hatte einen stechenden Blick, und seine Augen schlugen sie wie schwarze Ruten. Sie machte einen Knicks vor ihm, stürzte atemlos in den Flur und schlug die Tür hinter sich zu.
Reb Levi saß im ledernen Armstuhl und ließ seine Finger über die weichen Lehnen gleiten. Er hatte noch etwas Geschäftliches zu erledigen.
An jenem Tage war einer von Levi Pataschniks Männern unter eine von Levi Pataschniks Sägen geraten und dabei, nebbich, schwer verletzt worden.
Jetzt suchte ihn dieser Mann auf, um sich zu beklagen.
Reb Levi saß schwer im Stuhl, den Kopf in die Hände gestützt, und der Mann jammerte:
»Oh, es war entsetzlich!«
Er habe furchtbar gelitten.
Freilich leidet man, wenn man unter eine Säge kommt. Hahaha!
So saß Levi Pataschnik im Dunkel, und der Lüster erstrahlte in allen Regenbogenfarben über dem finsteren Zimmer.
Reb Levi Pataschnik haßte das Licht.
In der Dunkelheit öffnen sich breite Straßen über weite Strecken. Ihr geht von Weg zu Weg und trefft Menschen – den alten vergessenen Bruder oder Pan Wrublewsky oder einen Mann, der unter die Säge geraten war.
Die Tür öffnete sich langsam und herein kamen drei graue Juden mit Säcken auf den Schultern und Stecken in der Hand.
Die Juden blieben bei der Tür stehen, und Levi war so beschäftigt, daß er sie nicht bemerkte. Kaum, daß man die Besucher in der Finsternis sah.
Reb Levi saß da, wälzte seine Probleme und grübelte. Plötzlich stutzte er. Ihm schien, daß jemand gekommen wäre. Er wandte sich um und blickte zur Tür:
»Wer ist da? Was wollt ihr?«
Die Juden standen stumm wie Holzklötze und gaben keine Antwort. Doch dann erwiderte der älteste von ihnen leise:
»Nichts.«
Reb Levi erhob sich vom Stuhl, mit seinem schweren Bauch konnte er sich kaum auf den Beinen halten. Er spähte tiefer in die Finsternis und fragte:
»Wie? Ich höre nichts.«
Der älteste Gast sprach ein wenig lauter:
»Wir kamen hier vorbei und dachten, wir schauen herein.«
Reb Levi kochte vor Wut, und wenn er vor Wut kochte, ballten sich seine weichen Weiberhände zu Fäusten. Er ging auf die Juden zu und baute sich vor ihnen auf:
»Sagt ihr mir jetzt endlich, was ihr wollt!!«
Von seinem Geschrei verschlug es den Männern die Sprache.
Leah eilte bleich aus dem Nebenzimmer. Von der Tür her vermochte sie die Gestalten an der Wand kaum auszumachen. Die weißen Hände schützend vor den Hals gelegt, schlüpfte sie in eine Ecke, stand erschrocken im Dunkel und guckte.
Der älteste Gast antwortete schließlich:
»Wozu die Worte, Reb Levi? Dafür gibt es keine Worte.«
Reb Levi schrie. Er lief durch die Stube und schrie:
»Ich versteh nicht, Gott im Himmel! Ich verstehe nicht! Wofür gibt es keine Worte?«
Der älteste Gast sagte still und finster zu ihm:
»Es gibt keine Worte für den Schmerz, Reb Levi, für die Trauer, die zu ihm drang, zu seinem langen, bleichen Antlitz …«
Aber Reb Levi verstand noch immer nicht:
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