Als Kind habe ich meine vielen Tanten und Onkel als eigenwillig, etwas ruppig und manchmal auch als ziemlich direkt wahrgenommen. Obwohl sie an diversen Orten im Wallis, in der Waadt, in der Deutschschweiz und sogar in Amerika lebten, traf ich sie häufig in dem von der Familie betriebenen Weinkeller an, in welchem mein Vater Alfons als Kellermeister arbeitete. Dort tranken sie ein Glas Wein und diskutierten mit Kundinnen und Kunden oder mit Mitgliedern der grossen Familie, wobei der Lärmpegel zu vorgerückter Stunde anstieg und die Diskussionen angeregter wurden. An Familienfesten sassen die Geschwister zusammen, gönnten sich ein paar Flaschen Wein und fingen ohne grosse Worte an zu lachen. Laut, ansteckend, salvenartig und nicht enden wollend. Etwas Unausgesprochenes verband sie miteinander, das wir Nachkommen nicht wirklich nachvollziehen konnten und weswegen wir uns etwas ausgeschlossen fühlten.
Ich möchte in diesem Buch den Ursachen dieser geschwisterlichen Verbundenheit auf den Grund gehen. Erzählt wird die Familiengeschichte meiner Grosseltern Oktavia Bayard-Marty und Jeremias Bayard und ihrer elf Kinder in den ersten 70 Jahren des letzten Jahrhunderts in Varen im Oberwallis. Als unabhängige Selbstversorger praktizierten sie das jahrhundertealte System der Stufenwirtschaft, wurden aber zunehmend mit den Auswirkungen von Industrialisierung und Modernisierung konfrontiert. Anhand der Kindheits- und Jugenderinnerungen meiner Tanten und Onkel soll die Alltags- und Sozialgeschichte des damaligen bäuerlichen Lebens wiedergegeben werden, wohlwissend, dass viele Walliser Familien zu jener Zeit unter ähnlichen Bedingungen lebten. In einem langsam erodierenden System von Agrarwirtschaft, Katholizismus und Clanwesen gingen die grossen gesellschaftlichen Veränderungen im Wallis in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit Erleichterungen im Arbeitsalltag, mit neuen Handlungsfreiheiten, aber auch mit veränderten Verantwortlichkeiten einher. Oktavia, Jeremias und die elf Kinder sind mit diesen Entwicklungen auf unterschiedliche Art und Weise umgegangen, wobei auch Faktoren wie Geschwisterreihenfolge oder Geschlecht eine Rolle spielten.
Grundlage dieses Buchs sind Gespräche, die ich in den letzten Jahren mit meinem Vater und seinen Geschwistern geführt habe. Da meine Tante Silvie leider schon verstorben ist, sprach ich stattdessen mit einem ihrer Söhne. Näheres zu Theodor, dem Bruder von Jeremias, erzählte mir dessen Tochter Steffi Dutli-Bayard. Falls nicht anderweitig erwähnt und zitiert, basieren alle Ausführungen auf diesen Interviews. Aus inhaltlichen Gründen ist die Reihenfolge der Kapitel nicht strikt chronologisch nach dem Geburtsjahr der Kinder. Die in den USA oder in der Westschweiz lebenden Geschwister wechselten während der Gespräche häufig zwischen dem Englischen beziehungsweise dem Französischen und dem Walliserdeutschen hin und her, was sich mittels eingefügter Begriffe in den entsprechenden Texten widerspiegelt. Auch wiedergegeben wird an gewissen Stellen eine sprachliche Eigenheit des Varner Dialekts, das Zusammenfallen von Akkusativ und Dativ bei Personalpronomen («Das war für mir wichtig»). Immer wieder werde ich von den Geschwistern direkt angesprochen. Darin spiegelt sich die Gesprächssituation, in der die Interviews stattgefunden haben. Einblicke in Oktavias Alltag boten zwei Haushaltsbüchlein, die sie vor beziehungsweise nach ihrer Hochzeit minutiös geführt hat. Die eingefügten Fotografien wurden häufig von den nach Amerika ausgewanderten Familienmitgliedern oder deren Nachkommen aufgenommen und zeigen eine externe Sichtweise. Auch Norberts Gotte, die Ordensschwester Paula, nahm bei ihren Besuchen in Varen und in der Weid, der Voralpe in der Nähe von Leukerbad, viele idyllische Bilder der Kinder vor Bergkulisse auf. Hierfür wurde meist das beste Sonntagsgewand hervorgeholt.
All diese Quellen sollen helfen, ein möglichst genaues Bild des Lebens in den ersten Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts zu zeichnen. Zum besseren Verständnis der damaligen Situation im Wallis stütze ich mich zudem in einzelnen Kapiteln auf die Fachliteratur. Trotzdem ist das Buch nicht ein Spiegel der damaligen Realität. Im Mittelpunkt steht die subjektive Sicht der elf Geschwister auf ihre Kindheit und Jugend. Es sind Erinnerungen an eine Zeit, die weit entfernt scheint, obwohl sie noch gar nicht so lange vergangen ist.
Prolog
An der Schwelle zur Moderne
Das Wallis im Wandel
Familiengründung
Oktavia zieht es in die Welt hinaus
Jeremias führt die Tradition fort
Ein eigenes Haus und viele Kinder
Familienleben
Hedy, *1927
Marie, *1929
Das Stufensystem – Varen, Bodmen, Weid, Varneralp
Blutküchlein mit Äpfeln und die beste Polenta der Welt
Franz, *1932
René, *1933
Silvie, 1934–2009, aus der Sicht eines Sohnes
Politik – die Schwarzen und die Gelben
Dauerbelastungen und ein Zusammenbruch
Arnold, *1943
Norbert, *1943
Alfons, *1941
«Du weisst nicht, wie das Fegefeuer ist»
Kein unbeschwerter Ruhestand
Anny, *1936
Markus, *1938
Erich, *1939
Blick in die Gegenwart
Epilog
Nachwort
Dank
Anmerkungen
Bildnachweis und Quellenangaben
Autorin
Kurz vor ihrer Hochzeit mit Jeremias Bayard im Herbst 1926 begleitete Oktavia Marty ihre Schwägerin Josephine im Zug nach Le Havre an die nordfranzösische Küste. Josephine war die Frau von Oktavias Bruder Ignaz. Mit ihren vier Töchtern, die zwischen drei und zehn Jahre alt waren, wollte sie mit dem Schiff nach New York auswandern, wie Tausende von Walliserinnen und Wallisern in den Jahrzehnten zuvor.
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