»Aus Weißrußland.«
Mehr hatte Benje nicht zu fragen, seine Gedanken waren ihm ins Fleisch gewachsen.
In der trüben Finsternis glommen die blauen Scheiben, und die Juden legten ihre Pelze auf die Bänke.
Reb Benje zündete einen Kienspan an. Die Gäste sahen sich im Zimmer um und warfen seltsame Schatten an die Wände. Und die Kuh im Stall ahnte wohl etwas, denn sie verließ ihr warmes Lager und steckte ihren Kopf durch das Fenster zur Stube. Sie lauschte.
Reb Benje setzte sich still zu seinen Gästen an den Tisch. Er schaute sie an und wollte über etwas nachdenken, doch es gelang ihm nicht, sosehr er sich auch mühte.
Dann wandte er sich unvermittelt an die Männer:
»Freunde, was soll ich tun?«
Die Gäste blickten ihn stumpfsinnig an, und nach einer Weile fragte der älteste von ihnen:
»Hast du zu essen?«
»Ja.«
»Tue gar nichts.«
»Wirklich? Und wo ist der Sinn?!«
»Es gibt keinen Sinn.«
»Es gibt keinen Sinn?!«
Und der älteste Gast, jener, der geantwortet hatte, kehrte ihm den Rücken, legte sich auf die harte Pritsche, bedeckte sich mit seinem Pelz und zog ihn bis über den Kopf. Die beiden anderen taten es ihm gleich. Sie wollten schlafen.
Reb Benje stand neben ihm.
Lange Zeit stand Benje neben dem ältesten Gast, dann verschränkte er die Hände auf dem Rücken und ging leise im Zimmer auf und ab. Die Kuh am Fenster schaute ihm dabei zu.
Plötzlich kam ihm ein Gedanke und es durchfuhr ihn heiß. Er trat an den ältesten Gast und zog ihn am Fuß:
»Und was kommt dann? Werde ich sterben?«
Der Gast suchte seinen Fuß mit aller Kraft zu befreien, doch Benje ließ nicht locker. Er rief nur noch lauter:
»Was ist? Werde ich sterben?«
Und er brach in Tränen aus.
»Sterben?«
Die Gäste erhoben sich auf den Bänken, und Benje jammerte, schlug an die Wände, rannte durchs Zimmer, riß sich keuchend die Kleider vom Leib und schrie. So weh tat es ihm.
Um Mitternacht standen die Gäste auf, wuschen die Hände und holten ihre Psalter hervor.
Zu viert setzten sie sich auf die Erde.
Der Lehmboden war kalt, denn es nahte ein kühler Morgen. Die Kuh stand noch immer am Fenster und fror. Es war kalt.
Die Juden sagten Psalmen, mit heiseren Stimmen und dunkler Leidenschaft.
Sie schlossen die Augen und schauten in eine andere Welt.
Sie lauschten nicht der Stimme, die sprach, sondern der finsteren Stille, die ihr Innerstes erfüllte und nicht nach außen drang:
Das Gebet eines armen Mannes, im Verborgenen, der sein Herz ausschüttet vor Gott …
Und in die Nacht züngelten die ersten Flammen eines neuen Tages.
Früh am Morgen hatte sich Benje ein wenig gefangen. Seine langen Hände baumelten herab, als gehörten sie ihm nicht, und deuteten knochig und kalt in die Psalter. Er betrachtete seine Gäste, beugte sich langsam zum Nächstsitzenden herab und fragte ihn leise ins Ohr:
»Was ist Eure Arbeit, mein Herr?«
»Wasserträger.«
»Und was seid Ihr?«
»Musiker.«
»Und Ihr?«
»Schornsteinfeger.«
Ihm gefielen die angesehenen Berufe.
Die Gäste hatten sich unterdessen erhoben und schickten sich an zu gehen.
Reb Benje strich um sie herum und wußte nicht, was er tun sollte.
Nacheinander küßten sie schweigend die Mesusa und traten hinaus ins purpurne Dunkel.
Die roten Beine angewinkelt, flatterte ein Storch vorbei, von einer Wiese zur nächsten. Mit seinen Flügeln streifte er fast ihre Köpfe.
Der dritte Gast, ein mürrischer Mann, der die Nacht hindurch geschwiegen hatte, redete sich nun in Hitze. Er war zornig auf Reb Benje, behauptete, daß jener nicht widerstehen würde, packte den überraschten Müller am Ärmel und wies auf den dürren Vogel in der Luft:
»Dieser Vogel ist ein Vogel«, knurrte er und starrte Benje tief in die Augen. »Und du bist ein Esel!«
Ja, er war boshaft. Wütend spie er aus und ging fort, ohne sich noch einmal umzudrehen. Reb Benje stand da wie vom Donner gerührt, er hatte nichts verstanden.
Da trat der älteste Gast auf ihn zu und meinte zum Abschied:
»Du wirst Versuchungen ausgesetzt sein, Benje!«
Und die drei Gäste folgten dem Weg zurück in den Wald.
Das Gebet eines armen Mannes, im Verborgenen,
Der sein Herz ausschüttet vor Gott.
Warum müssen wir so viel erdulden, Gott?
Wo ich auch steh, bedarf man meiner nicht.
Wohin ich geh, folgt mir der Ruch des Dunkels.
Dem Vogel neide ich, daß es ihm bessergeht,
Und dem Lehm, daß es ihm bessergeht als allem.
Was soll ich tun mit meiner nutzlosen Hand,
Meinem nutzlosen Herz?
Den ganzen nächsten Tag über lag der Müller auf dem Lehmhügel, der sich hinter der Mühle erhob. Er verstand allmählich den Lehm seines Körpers, sein Gesicht lag eingewühlt im Sand, und mit gekrümmten Fingern krallte er sich in die Wurzeln.
Reb Benje ging es sehr schlecht.
So lag er auf dem Berg und dachte, daß er jetzt ein Teil von ihm wäre und daß ein Grashalm, der unter ihm sprösse, nun durch seine Schultern wachsen müßte.
Und ihm war, als ob der Lehm atmete und sich zu Händen und Füßen formte, zu Köpfen und Brüsten und es keinen Unterschied mehr gab auf der Welt zwischen Benje und dem Lehm der Erde.
Eine ganze Woche lag er so auf dem Berg.
Die Kuh trottete allein über die Felder und stillte ihren Hunger an Stroh und süßem Nichtstun.
Benje hatte alles um sich vergessen und lag da wie tot.
Im Morgengrauen flog zuweilen eine Elster aus den Nebeln und ließ sich auf seinem Rücken nieder wie auf einem Schwein. Doch er achtete nicht darauf. Er lag in tiefem Schlaf, unfähig zu scheiden zwischen der Wirklichkeit und den Träumen, die ihm durchs Hirn gingen.
Und er wußte nicht mehr, ob er ein Mensch war oder ein Stein, der mit Flechten bewachsen am Wegrand lag.
Und eines Abends saß er kraftlos am Abhang des Hügels. Seine baumelnden Beine stießen gegen den Lehm, und er, Reb Benje, guckte, dachte an nichts, saß nur still da und guckte.
Er wußte nicht, was ihn in seinem Inneren zwang, alles zu schauen, doch es bereitete ihm großes Behagen. Allmählich erfüllte ihn ein Staunen, seine Augen wurden groß und rund, und für eine Weile vergaß er zu atmen.
Vor ihm erstreckte sich die Welt, weit und kalt, und Gott war in ihr.
Sie hallte wider wie eine blaue Eishöhle, und in dieser Höhle kroch er einsam herum wie ein schmutziger Bär.
Er stellte sich mit den Vordertatzen gegen die kalten Brocken und guckte und guckte. Er suchte IHN, Gott, der sich vor ihm verbarg.
Das funkelnde Eis der Höhle glitzerte blau.
Und da …
Da sah er IHN, Gott. Gleich darauf war er wieder verschwunden.
Aber er hatte Gott gesehen!
Und eine große Freude durchströmte seine Glieder, eine dünne und lichte Freude, er lächelte: Ein Joch war ihm vom Herzen abgefallen.
Reb Benje erhob sich, strahlend vor Freude und Güte, und plötzlich entrang sich seiner Brust ein Schrei, ein dumpfes Brüllen, wie das Brüllen seiner Kuh. Er stemmte die Hände in die Hüften, und die untergehende Sonne übergoß ihn mit Röte.
Reb Benje, der Müller, war geheiligt worden.
Im Westen standen im Licht der schwindenden Sonne gehäutete rote Ochsen, wie beim Berit bejn Habetarim – bei Gottes Opferbund mit Abraham.
Er verstand nun die Welt bis ins Mark seiner Knochen, bis in die brennende Haut seines Leibs. Lächelnd sah er auf die Kleider, die er trug: In Fetzen hingen sie an ihm herab, in Fetzen.
Reb Benje stieg den Hügel herab. Die alte Mühle war zugewachsen und älter geworden, und aus einer Wand sproß gar ein junger Baum.
Читать дальше