»Nicht weinen, Chris«, sprach sie nun in einem ruhigen Tonfall, von dem sie hoffte, dass er einigermaßen liebevoll und tröstend auf ihn wirkte.
»Ich kann einfach nicht anders«, rang er sich schließlich schluchzend ab. »Du bist echt fies zu mir gewesen.«
»Ich weiß, aber wir wurden gerade gejagt, und die kamen immer näher. Ich musste dringend etwas unternehmen, und Worte waren nun mal alles, was ich gerade hatte.«
»Du hast mich beschimpft und ich dachte wirklich, du würdest mich im Stich lassen.« Seine Stimme überschlug sich nun fast. »Du bist doch meine Schwester und solltest eigentlich immer auf mich achtgeben. So habe ich dich noch nie zuvor reden gehört … deine Worte haben mich echt tief gekränkt, Tina.«
Sein Tonfall machte sie zunehmend aggressiver. Nicht einmal jetzt begriff er den Ernst ihrer Lage und die Tragweite seines Verhaltens. Er suhlte sich einfach viel zu gern in Selbstmitleid, um das größere Ganze überblicken zu können, und war zu egoistisch, um zu verstehen, dass sich die Welt nun einmal nicht nur um ihn allein drehte. Dennoch strengte sich Tina an, ihre aufkeimende Wut herunterzuschlucken und Ausgeglichenheit hervorzukehren. Obwohl sie ihn weder verletzen noch aufregen wollte, konnte er nicht weiter dort hocken, sich selbst bedauern und die Opferrolle einnehmen. Denn je länger er rumheulte und sich beklagte, wie schwer ihn ihre Worte und Taten getroffen hatten, desto schwerer würde sie sich damit tun, ihr Temperament zu zügeln.
»Warum hast du das alles denn überhaupt gesagt, Tina? Du hast mir wehgetan, als du diese Gemeinheiten von dir gegeben hast. Ich war wirklich überzeugt davon, du würdest mich dort draußen hängenlassen. Ich habe mich vollkommen wertlos gefühlt und gedacht, ich sei dir komplett egal.«
Sie holte tief Luft und starrte dabei durch das Fenster nach draußen. Mit ihrem rechten Zeigefinger klopfte sie fortwährend auf die Radialarterie an ihrem linken Handgelenk, während sie versuchte, cool zu bleiben. Ihre Konzentration richtete sie ganz und gar darauf, gleichmäßig zu atmen und ihren Blutdruck zu senken. Im Laufe der Jahre hatte sie den einen oder anderen Trick im Umgang mit ihren Ängsten und Zwängen gelernt, doch in diesem Moment war es pure flammende Rage, die sie zu übermannen drohte.
»Mum hätte mir so etwas nie an den Kopf geworfen. Sie hätte bestimmt nicht gedroht, mich alleinzulassen. Sie wäre niemals …«
Nun fuhr Tina explosionsartig hoch und sprang vom Sofa. »Mum ist aber mausetot, Chris, und ohne mich wärst du es auch schon längst!«
Sie stürzte zu seinem Platz hinüber. Während ihre dunklen Umrisse bedrohlich über ihm aufragten, versank er immer tiefer in den Polstern, weil sie so heftig aufbrauste. Selbst in dieser praktisch vollkommenen Dunkelheit konnte er ihre zusammengebissenen weißen Zähne sehen und sich vorstellen, wie sie gerade abfällig das Gesicht verzog.
»Siebenundzwanzig Jahre lang hat sie dir den Arsch abgeputzt und dich gemästet, bis du kaum noch stehen konntest«, brüllte ihm Tina ins Gesicht, während sie vorwurfsvoll auf ihn zeigte. »Aus eigener Kraft hast du nie etwas gemacht, lieber hast du daheim gehockt und beschissene Computerspiele gezockt wie die minderbemittelten Kids in Japan, während der Rest von uns, die wirklichen Menschen, ausgezogen sind und uns dem Leben gestellt haben. Du bist dein Leben lang nur ein Schmarotzer gewesen. Dann ging dieses ganze Elend los und ich musste deinen fetten Arsch plötzlich in Sicherheit bringen.«
»Aber …«, stotterte er in dem Bestreben, sich zu rechtfertigen.
»Nichts da, aber , Chris. Mum starb langsam und qualvoll und du hast nicht einen Finger krummgemacht, um ihr zu helfen. Du hast sie einfach in ihrem Zimmer eingesperrt und nichts getan. Du hast nur rumgeheult und dir selbst leidgetan. Ich war diejenige, die Mum von dem Leid erlöst hat, das sie durchmachen musste. Du kannst von Glück reden, dass ich nach Hause gekommen bin, denn sonst würdest du jetzt immer noch dort sitzen und verwahrlosen, weil sich niemand mehr um dich kümmert – oder schlimmer noch, du wärst schon längst von Mum gefressen worden.«
Sie machte eine Pause und zog sich wieder von ihm zurück. Nach einem tiefen Seufzer stemmte sie ihre Hände in die Hüften und entfernte sich vom Sofa.
»Sieh dich doch mal an. Du kannst und wirst niemals selbstständig handeln. So warst du schon immer. Du hast immer schon vorausgesetzt, dass sich alle anderen für dich ins Zeug legen und dich dabei mit Samthandschuhen anpacken.«
»Aber …«
»Deinetwegen wären wir heute fast draufgegangen, Chris.« Sie sprach nun wieder etwas ruhiger. »Ich musste dich den ganzen Weg hierher hinter mir her schleifen oder dich anschieben. Du bist ein erwachsener Mann, um Gottes willen, und mehr als dreimal so schwer wie ich.«
Sie wandte sich ab, ging zu den breiten Fenstern und schaute über den Parkplatz hinaus in die Nacht.
»Was, wenn ich mich dabei verletzt hätte?«, fragte sie, während sie über die Schulter zurück zu Christopher auf dem Sofa schaute. »Wärst du dann imstande gewesen, mich zu tragen und zu retten? Hättest du es auf der Suche nach einem geeigneten Versteck für uns mit welchen von denen da draußen aufnehmen können?«
Aus der Dunkelheit kam keine Antwort.
»Klar, das dachte ich mir schon«, fuhr sie geringschätzig fort. »Ich muss alles selbst übernehmen, nicht wahr? Ich bin es, die dafür sorgen muss, dass wir beide in Sicherheit sind und etwas zu essen haben. Ich bin diejenige, die Pläne schmiedet, während du nur dasitzt, wie ein verdammtes Riesenbaby.«
Sein Schluchzen wurde nun wieder lauter.
»Jetzt reicht es aber, sei still, Chris. Hör endlich auf, dich selbst zu bemitleiden, und reiß dich am Riemen.«
»Aber ich kann doch nichts daran ändern, wie ich bin«, jammerte er mit quengeliger Stimme. »Ich weiß, dass ich fett bin, aber das ist eine Krankheit. Das wurde sogar von einem Arzt bestätigt.«
»Unsinn, Chris. Krebs ist eine Krankheit, Aids ist eine Krankheit, Mann!«, blaffte Tina ihn an. Sie hob eine Hand und zeigte auf die verrenkten, dunklen Gestalten, die unter dem Fenster entlanghumpelten. »Diese armen Schweine da draußen sind eine Krankheit!«
»Nein, es ist wirklich …«
»Halt doch endlich die Fresse, Chris. Du bist einfach nur faul und kriegst den Hals nicht voll. Du bist, wie du bist, weil du dich selbst dazu entschieden hast. Als alle anderen erwachsen wurden, Jobs annahmen und aktiv wurden, hast du dich bewusst dazu entschieden, daheimzubleiben und ein fettes Muttersöhnchen zu werden. Du hast Behindertengeld in Anspruch genommen, weil das leichter war, als mit der Realität klarzukommen und Eigenverantwortung zu übernehmen. Dein Zustand ist ganz und gar selbst verschuldet, Chris, und du tust nichts weiter, als anderer Leute Sauerstoff zu verbrauchen.«
Nach dieser Ansprache blieb es lange Zeit still im Raum. Christopher saß weiterhin auf dem Sofa und vertiefte sich in sein Selbstmitleid, während Tina am Fenster stand und die Infizierten beobachtete, die im Dunkeln herumstolperten.
Hoch am Himmel stand der Vollmond und er schien so hell, dass sie ein gutes Stück weit sehen konnte. Es wirkte so, als würde sie einen alten Schwarz-Weiß-Film schauen. Die Farben der Natur waren beinahe vollständig verblasst, abgestuft in vielen Schattierungen von Grau bis Schwarz. Unter dem Fenster und auf der Parkfläche verstreut hinkten, wohin sie auch blickte, die Untoten geistlos umher, bekamen die Füße nicht hochgehoben und konnten ihre Köpfe nicht mehr aufrecht halten. Tina betrachtete sie eine ganze Weile, bis sich ihre Nerven endlich beruhigten und ihr Zorn langsam nachließ. Erneut seufzte sie tief, bevor sie sich noch einmal zum Sofa umdrehte.
»Komm her, Christopher«, befahl sie in einem Tonfall, der ihm suggerieren sollte, dass er keine andere Wahl hatte als zu gehorchen.
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