Um sieben Uhr früh, es ist der 10. Dezember 2008, blicke ich aus dem Ledge und bin von den Socken: Die Sonne steht bereits voll in der Nordwand. Blitzschnell werde ich wach. Genau genommen haben wir schon eine Stunde verschenkt. Wir müssen los. Eigentlich wollten Thomas und Steph heute vorausgehen. Thomas und ich sind aber schneller startklar. Wir wollen keine wertvolle Zeit verlieren, und so gehe ich gleich mit Thomas mit. Wir steigen den Seilen entlang hinauf, zuerst noch im Schatten der Westwand, dann endlich in der Sonne, die die Nordwand wärmt. Überhängend fährt der feine Riss in den antarktischen Himmel hinein. Ich hänge im Schlingenstand, Thomas in den Leitern, alles ist safe , super Keile, kein Problem. Nach 20 Metern noch ein Kamin. Endlich freiklettern, es geht schneller! Zehn Meter schieben und quetschen, dann ist Thomas auch schon oben. Die Headwall liegt hinter uns und auch der weitere Weg, der darauf folgt, sieht gut zu bewältigen aus.
Wir stehen jetzt genau an der Gratkante, bekommen einen atemberaubenden Tiefblick in die verschneite Westwand. Wir sind begeistert. Leicht und undramatisch geht es vorerst weiter. Wir rauschen die nächsten Seillängen nur so hinauf, sodass Steph und Max ordentlich zu schaffen haben, mit den Jumars an den fixierten Seilen hinterherzukommen, sie dann aufzunehmen und wieder nach oben zu bringen. Mit diesem Durchlauf unserer drei Seile schaffen wir es, uns als Viererseilschaft mit nur einem Vorsteiger regelrecht hinaufzuschrauben. Zum Glück hält das Wetter so einigermaßen. Mal fällt ein kleiner Schneeschauer, meist sind wir in Wolken gehüllt, dann weht wieder ein wenig Wind, aber es ist nicht exorbitant kalt und damit erträglich. Es folgt ein Kamin – schweres Pflaster, aber Thomas beißt sich durch. Es folgen neue Barrieren, die scheinbar nicht weniger und nicht leichter werden. Der Weg zum Gipfel ist noch verdammt weit, und von hier aus sieht der obere Teil mehr als schwer aus. Erst mal folgen Hundert Meter Gehgelände bis zum nächsten Bollwerk. Wir müssen entscheiden, wie es weitergeht. Links raus und die steilen Türme hinauf Richtung Gipfel? Das sieht nach hakentechnischem Klettern und mindestens vier Seillängen aus. Oder rechts an die Kante raus? Vom Standplatz aus wären das gut 30 Meter. »Kante besser!«, tippe ich auf rechts, und Thomas versucht es.
An der Kante angekommen, schätzt Thomas die Lage ein: Die Wand über ihm sieht machbar aus, wenn auch nicht leicht. Der Fels scheint ziemlich morsch und nicht absicherbar zu sein – eine heikle Mission. Thomas klopft noch einmal seine Finger warm, dann kommen trotz der Kälte erst einmal die Handschuhe weg – es wird also verschärft! Irgendwo mitten in der Wand wickelt Thomas eine Schlinge um einen kleinen Felszacken, was nicht viel bringt, weil die Schlinge schon kurz darauf wieder am Seil entlang hinuntersegelt. Es bleibt spannend. Mittlerweile sind auch Steph und Max am Standplatz angekommen. Keiner spricht, alle schauen gespannt auf das, was da oben passiert. Irgendwann, ganz unverhofft, dann der Freudenschrei. Thomas hat eine Stelle im Felsen entdeckt, in der er einen Camalot als bombenfeste Sicherung unterbringt. »Der Wahnsinn!«, gibt er von sich. 15 Meter direkt an der senkrechten Kante zwischen Nord- und Westwand klettern, er hat die Klimax der gesamten Route überwunden. »Stand!«, und ich gleich hinterher.
Thomas erwartet mich schon mit einem: »Des glaabst ned!« Es ist vorbei! Vor uns ist alles flach. Gehgelände bis zum Gipfel, es ist 14.30 Uhr. Wir geben uns alle vier die Hand. Es fängt wieder zu schneien an. Es war nicht umsonst, dass wir so aufs Gas gedrückt haben, und dass Max bei diesem Tempo durchgehalten hat, ist sensationell! Lange bleiben wir nicht, denn wir sind vorgewarnt. Mit jeder Stunde soll der Wind stärker werden. Langsam und sicher kommen wir nach unten. Ich seile voraus, richte die Standplätze ein, dann Max, dann Steph und Thomas als letzter. Überhängend schwebe ich die Headwall hinunter. »Sakrisch« steil und gerade bei diesem Wetter – es schneit und stürmt – abartig beeindruckend! Wir erreichen wieder unsere Portaledges. Endlich! Es ist 18.30 Uhr, erleichtert schlüpfen wir in unsere Schlafsäcke.
Während der gesamten Nacht bleibt das Wetter grauenhaft. Im Schlafsack lässt es sich noch aushalten, aber am Morgen müssen wir raus und mit dem ganzen Krempel wieder vom Berg hinunter. Der Schnee kommt gleichermaßen von oben und unten und der Wind sowieso von überall. Und gerade, weil das Packen eine lästige Arbeit ist, lassen wir Sorgfalt walten. Am Ende der Expedition ist ein Fehler schneller passiert, als man glauben würde. Nach einer Stunde geht es talwärts, und wenigstens das geht nun leichter, denn das Tragen der schweren Haulbags übernehmen hier die Eisfelder für uns. Thomas und Max steigen voraus, und Steph und ich kündigen unsere Paketsendungen per Funk an. Auf Kommando lassen wir die Teile nacheinander runterrauschen. Und die Säcke sind gerauscht, aber wie! Eine wahre Freude, wie die da runter sind. Ohne Anstrengung, einfach so. Unten angekommen, verstauen wir alles auf unseren Schlitten. Noch acht Kilometer haben wir vor uns, die letzten für diese Expedition: »Mei, is des schee!«
ÄUSSERE UND INNERE AUFSTIEGE
SCHRITTWEISE UND LANGSAM
Mein Geburts- und Heimatort Haibach ob der Donau in Oberösterreich liegt nicht in den Bergen. So bin ich in den Jahren der Grundschule nicht so hoch hinaufgekommen. Wohl konnten wir auf den Hügeln der Umgebung von Haibach Skifahren lernen. Mein erster Berg war dann 1967 der Schafberg, vom Ostufer des Mondsees aus über die sogenannte Himmelspforte. Es waren immerhin 1300 Höhenmeter. An die innere Befriedigung, an einen gewissen Stolz, es geschafft zu haben, kann ich mich noch heute erinnern. Es folgten Touren auf den Traunstein, auf das Warscheneck, den Bosruck und den Großen Pyhrgas. Meine Bergführer und Begleiter haben mich gelehrt, was von Anfang an wichtig ist: das langsame Beginnen und der gute Rhythmus. Wenn wir zu schnell losgegangen sind, ist uns am Ende die Luft ausgegangen. Manchmal hat sich zu Beginn der innere Schweinehund gemeldet: Das packst du heute nicht! Warum tue ich mir das heute an? Muss das heute sein? Gibt es eine Ausrede, warum ich heute nicht auf den Berg »muss«, sei es das Wetter oder die eigene Kondition? Aber Schritt für Schritt, Atemzug um Atemzug bin ich dann weiter und meist auch oben angekommen. Gelernt habe ich auch, was eine »Eingehtour« ist, wie wichtig ausreichend Schlaf und gesunde Ernährung sind. »Wer einen hohen Berg erklimmen will, tut das nicht in Sprüngen, sondern schrittweise und langsam«, hat schon Papst Gregor der Große vor 1400 Jahren gemeint. Schrittweise und langsam: Das gilt für die Einübung von Freundschaft, für das Erlernen eines Berufes, für Studium und Ausbildung, auch für den Weg des Glaubens. Und wenn ich angesichts des fernen Gipfels beunruhigt bin und den Eindruck habe: »Eigentlich müsste ich jetzt mit einem Kraftakt hoch, aber ich kann nicht«, dann gilt: Ich muss nicht sofort oben stehen, sondern kann vorerst nur den nächsten Schritt bergauf tun. »Geh einen nächsten Schritt in die Richtung, wohin es dich zieht, vielleicht etwas weiter, als du glaubst, du habest Kraft dazu.« Und die Berge wurden für mich zu einer Schule der Aufmerksamkeit, der Konzentration und der sowohl äußeren als auch inneren Beweglichkeit. Berge lassen sich nicht einfach konsumieren und schon gar nicht kaufen. Die Freude über den Gipfel gibt es nicht ohne Übung, Training und Askese.
Als Jugendlichen reizten mich bald leichte Klettertouren auf den Großen Priel über den Südgrat, dann schon etwas schwieriger auf die Spitzmauer und den Brotfall im Toten Gebirge, im Gosaukamm die Bischofsmütze, die Weitkarturmkante oder die Mandlkogelkante, in der Brenta die Cima Margherita oder in der Sella die drei Türme und in der Langkofelgruppe die Fünffingerspitze. Mehr als zum fünften Schwierigkeitsgrad habe ich es nicht gebracht. Die Motive meiner Motivation waren recht unterschiedlich: Am Anfang war es mehr der sportliche Ehrgeiz, dann der Versuch, die eigenen Grenzen auszuloten, zu erweitern und zu überwinden. Ich habe dabei massive Grenzerfahrungen am Scheideweg von Leben und Tod gemacht, sei es beim Mitgerissenwerden von einem Schneebrett, beim Hängen im Seil, beim Einbrechen in eine Gletscherspalte oder beim Tod des Freundes, der vor den eigenen Augen beim Abstieg vom Zweiten Sellaturm tödlich verunglückte. Diese Erfahrung war für mich eine radikale Unterbrechung des »Höher-weiterschwieriger«-Strebens.
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