Ich war bisher auf einem einzigen Viertausender gewesen, aber das liegt schon ein paar Jahre zurück. Meine Klettergrenzen habe ich am Jubiläumsgrat auf der Zugspitze kennengelernt, immerhin im dritten Schwierigkeitsgrad. Akklimatisiert war ich nicht. Dass ich mir dann noch die Anforderungen ansah, die die Bergführerorganisation »Zermatters« auf ihrer Homepage formuliert, machte es nicht besser: »Gute Akklimatisation und gute physische Fitness erreichst du am besten durch intensives Training in der Umgebung von Zermatt (täglich 1000 bis 1500 Meter Höhendifferenz im Aufstieg mit einer Stundenleistung von 650 Höhenmetern).« 650 Meter – das ist genau die Differenz von Zermatt nach Sunnegga, dem Ausflugsziel unterhalb des Rothorns. Das wollte ich doch mal ausprobieren. Es klappte, ich war in etwas weniger als einer Stunde oben und dachte mir voller Hybris: »Pah, geht doch.« Und dann tippte mir das Matterhorn auf die Schulter, ich drehte mich zu ihm um, und es sagte: »Wirklich?«
Ich wollte eine Nacht dort oben verbringen, würde am nächsten Morgen mit den Bergsteigern aufstehen und vielleicht – der Gedanke begleitete mich Schritt für Schritt – durch einen Wink des Schicksals hinaufsteigen (obwohl ich das nicht geplant und keinen Bergführer gebucht hatte). Den Hörnligrat stets im Blick, bereitete mir schon allein der Gedanke schweißnasse Hände. Noch nie zuvor hatte ich den Ruf des Berges so klar vernommen. Auf der Hütte war viel los und die Terrasse füllte sich immer mehr. Von unten kamen Wanderer herauf und von oben Bergsteiger zurück. Da saßen sie nun, aßen Spaghetti Bolognese und tranken selbst gemachten Eistee, verschwitzt, erschöpft, noch voller Adrenalin und Endorphin. Italiener, Franzosen, Briten, Schweizer und Deutsche, mit Schweißrändern, zusammengekniffenen Augen und Helmabdrücken auf den Köpfen, schauten hinauf zum Gipfel und konnten kaum glauben, dass sie dort oben gewesen waren. Später erzählten die Hüttenwirte noch ein paar Geschichten: von einem Hochzeitsantrag auf der Terrasse, von einem Opa, der mit seinem zehnjährigen Enkel aufs Matterhorn gestiegen war und einem 16-jährigen autistischen Österreicher, der es, allein und ohne Seil, zum Gipfel geschafft hatte, von einer Frau, die mit einem Rollkoffer über den steilen Wanderweg heraufgekommen war und einem Mann, dessen Bruder vor ein paar Jahren am Berg gestorben ist.
Beim Abendessen in dem schicken neuen Glas-Holz-Anbau saß mir ein italienischer Bergführer gegenüber. »Der Berg ist zwar technisch leicht«, sagte er, »aber du musst die ganze Zeit fokussiert bleiben. Er ist nicht steil genug, um abzuseilen, das heißt, du musst abklettern und darfst dir keinen Fehler mit deinen Füßen erlauben.« Draußen war es dunkel geworden, und in der Dunkelheit sah ich einige Lichter flackern. Es waren also noch Bergsteiger unterwegs und tatsächlich kamen die letzten erst um 23 Uhr wieder in der Hütte an – sie waren 18 Stunden unterwegs. Ein Schweizer Führer schaute mich an und schien meine Gedanken lesen zu können. Er sagte: »Wenn einer das Matterhorn will, dann muss er es wollen! Es ist ein schwarzer Berg, so wie eine schwarze Piste. Das kannst du nicht machen, wenn du so etwas nie zuvor gemacht hast.« Ich musste mir eingestehen, dass ich vermutlich für eine rote Piste bereit war, nicht aber für eine schwarze. Doch die Gesellschaft, die sich morgen aufmachen würde, das Matterhorn zu besteigen, machte mir Mut. Es waren, wie angekündigt, überwiegend Männer zwischen 40 und 50 Jahre alt, sowohl die Kunden als auch die Bergführer. Ich war 44, lehnte mich entspannt zurück. »Siehst du«, sagte das Matterhorn, das offenbar wieder zur Vernunft gekommen war, kurz bevor ich einschlief, »deine Zeit kommt erst noch.«
Am nächsten Morgen um kurz vor fünf ging es los. Mit Funktionsjacken, Stirnlampen und Rucksäcken mit festgezurrten Steigeisen und Eispickeln trat einer nach dem anderen hinaus in die Nacht. Fünf Grad, leichter Wind, sternenklarer Himmel, milchiges Mondlicht. Gute Bedingungen. Wie eine Glühwürmchen-Kolonne gingen sie das kurze Stück hinüber zum Einstieg, eine 30 Meter hohe Felswand, durch die ein dickes Fixseil führt. Vor ihnen zeichnete sich das riesige schwarze Dreieck des Berges ab. Der Mond strahlte irgendwo dahinter und es sah aus, als glimme der Berg selbst. Ich beobachtete, wie ein Bergführer nach dem anderen seinen Gast ans Seil nahm, und war so nervös, als wäre ich einer von ihnen. Karabiner klackerten, Seile scheuerten über den Felsen, und die Bergführer murmelten ihren stummen Kunden letzte Tipps zu. Einer von ihnen, ein Österreicher, stand im T-Shirt da. Und so verschwand eine Seilschaft nach der nächsten in der dunklen Wand. Und ich war, zugegeben, heilfroh, dass ich nicht mit hinaufmusste.
»Weißt du, du musst mir gut vorbereitet und mit Würde gegenübertreten«, sagte das Matterhorn, als ich wieder allein war.
»Ja, du hast recht«, antwortete ich.
»Es stimmt wirklich«, sagte das Matterhorn, »man muss mich von ganzem Herzen wollen.«
»Du weißt schon, dass ich wiederkomme.«
»Kein Problem, ich bin hier. Und wenn dir die Zuversicht ausgeht, erfinde sie.«
Und so ging ich wieder hinunter zur Hütte, mit dem Glücksgefühl eines Menschen, der das Richtige getan hat. Ich trank in der Hütte einen Kaffee und beobachtete die Stirnlampen, die sich langsam am Grat nach oben bewegten. »Nächstes Jahr«, sagte ich, »vielleicht nächstes Jahr.« Und das Matterhorn, das konnte ich ganz deutlich sehen, nickte.
WOLFSZAHN – DER SCHWIERIGSTE BERG DER ANTARKTIS
Mitte der 1990er-Jahre war ich auf einer Vortragsreise in England unterwegs, und an einem denkwürdigen Abend ergab es sich, dass ich nach meiner Präsentation auch noch die Bilder und Erzählungen eines anderen Bergsteigers erleben durfte. Ein besonderer Vortrag über besondere Berge! Ivar Tollefsen zeigte Bilder von Bergen, die man so auf dieser Welt noch nicht gesehen hat, und erzählte von seinen Tagen auf dem schwierigsten Berg der Antarktis: dem Ulvetanna. »Wolfszahn« bedeutet das in unserer Sprache. Kein Achttausender, aber eine senkrechte Rakete in der horizontalen Eiswüste, so freistehend und isoliert in ihrer Gestalt wie sonst kein anderer Berg dieser Welt. 13 Jahre sind seither vergangen. 13 Jahre lang musste der Traum reifen, bis wir ihn leben konnten. Jetzt, mit knapp 40 Jahren, ist die Zeit dafür gekommen.
Schweres Klettern in großer Kälte ist auf den Bergen der Antarktis gefordert, und Kälte ist es wohl, an das als Erstes gedacht wird, wenn von Antarktis die Rede ist. Und ja, dieser Kontinent ist der Inbegriff von Kälte. Nirgendwo sonst auf unserer Erde sind die Temperaturen derart niedrig. Als Kältepol gilt die sowjetische Wostok-Station im zentralen Polarplateau der Ostantarktis, wo am 21. Juli 1983 die tiefste, jemals in freier Natur gemessene Temperatur von minus 89,2 Grad Celsius gemessen wurde. Als kontinentales Jahresmittel werden für die Antarktis »nur« minus 55 Grad errechnet, denn die Monatsmitteltemperaturen variieren natürlich aufgrund der verschiedenen Tageslängen stark. Am Südpol selbst dauern die Polarnacht und der Polartag jeweils fast ein halbes Jahr, und dadurch schwanken die Mitteltemperaturen auf dem Polarplateau zwischen minus 40 und minus 68 Grad Celsius. Grund für die extremen Temperaturen ist die besondere Eigenart der Schnee- und Eisoberfläche, die eingestrahlte Sonnenenergie erst gar nicht aufzunehmen, sondern wie ein Spiegel fast vollständig wieder zurück ins All zu reflektieren. Verstärkend kommt hinzu, dass die Antarktis mit einem Durchschnitt von 1800 Metern über dem Meeresspiegel auch der Kontinent mit der durchschnittlich größten Höhe ist, was zusammen mit der in Polnähe nur acht Kilometer dicken Troposphäre die Temperaturen noch tiefer sinken lässt und den Südkontinent im Vergleich zur nördlichen Polkappe um ganze 30 Grad kälter macht.
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