Es vergingen sieben Jahre, und das Matterhorn und seine Stimme verschwanden aus meinem Kopf. Dann führte mich die Recherche zu meinem Buch Oben ist besser als unten wieder nach Zermatt. Es geht darin um die Geschichten rund um den Berg, die dramatische Erstbesteigung, die Literatur über den Berg und die Menschen, die in seinen Bann geraten sind. Und so hörte ich zum ersten Mal, was die Zermatter selbst über ihren Berg sagen. »Der Herrgott war ein kluger Mann. Er hat das Matterhorn so frei dorthin gestellt und die schöne Seite nach Zermatt gedreht«, erzählte mir der Museumsleiter. Seine erste Handlung an jedem Tag sei, den Vorhang in seinem Wohnzimmer zur Seite zu ziehen und das Matterhorn zu fragen: »Na, wie siehst du heute aus?« In den vergangenen 52 Jahren habe es jeden Tag anders ausgesehen. Das Matterhorn, das wurde mir nun klar, ist hier mehr ein mythisches Wesen als ein lebloser Berg. Es ist eine magische Energiequelle, die für viele auf etwas Höheres verweist, ein Pfeil in den Himmel. »Ohne das Matterhorn wären wir gar nichts«, erzählte die Betreiberin eines Fondue-Restaurants. »Ich bin durch die ganze Welt gereist und habe festgestellt: Das Matterhorn kennt jeder, aber Zermatt kein Mensch.« Ein Hotelier sagte in bester Erhabenheitsmanier des 19. Jahrhunderts: »Es sieht so schön aus, so gefährlich und unbesteigbar. Gerade von Zermatt aus wirkt die schwarze Nordwand so bedrohlich und zieht uns in ihren Bann.« Eine Mitarbeiterin des Tourismusbüros, die seit Jahren darüber nachgedacht hatte, den Berg zu besteigen, wusste: »Es ist ein sehr psychologischer Berg – vor allem im Abstieg, weil du dann den gähnenden Abgrund immer vor dir hast.« Sie war noch nie höher als auf der Hörnlihütte gewesen, aber der Berg sprach offenbar auch zu ihr. Und der Museumsleiter erzählte schließlich noch: »Das Matterhorn wollte nicht, dass ich hochsteige. Dreimal habe ich mich vorbereitet. Dreimal habe ich mich verletzt.« Und mit 73 Jahren sei er nun doch etwas zu alt dafür. Ich war beruhigt. Die meisten Zermatter unterstellten dem Berg einen Willen und hörten seine Stimme. Ich war also weder allein noch verrückt, als ich die Stimme des Berges wieder vernahm:
»Da bist du ja wieder.«
»Ja.«
»Und?«
»Hm. Weiß nicht, Lust hätte ich schon.«
»Alle Lust will Ewigkeit«, sagte es grollend. Und: »Bist du bereit? Du musst einen Steinbock im vollen Galopp aus der Bahn werfen können.« Der psychische Zustand des Matterhorns machte mir Sorgen. Aber es hatte recht: Ich war nicht bereit. Und das lag auch an der dramatischen Geschichte der Erstbesteigung, mit der ich mich damals beschäftigte und die bis heute einen Teil des Mythos »Matterhorn« ausmacht. Und die ist, gelinde gesagt, ein ziemlicher Downer.
Man schrieb den 13. Juli 1865. Sieben, zum Teil ziemlich junge Männer brachen morgens um halb sechs in Zermatt auf: Edward Whymper (25), Lord Francis Douglas (18), Robert Hadow (19) und Charles Hudson (37), die beiden erfahrenen Bergführer Michel Croz (35) und Peter Taugwalder (45) sowie dessen Sohn David (23). Das Matterhorn war damals einer der letzten noch unbestiegenen Gipfel der Alpen, und zwei Seilschaften waren zum Gipfel unterwegs. Ein Wettlauf. Der Brite Edward Whymper versuchte es von Zermatt aus, ein Team rund um den Italiener Jean-Antoine Carrell von Italien aus. Whymper und Co. kamen gut voran, schliefen eine Nacht im Zelt und hatten am nächsten Tag um zehn Uhr eine Höhe von 4260 Metern erreicht. Sie mussten nun die Ostseite verlassen, da sich die Felswände im oberen Verlauf wie Hochhäuser auftürmten, und stiegen in die Nordseite ein. Ein verwegenes Manöver, doch am Ende war der Aufstieg auf den »unbesteigbaren Berg« sogar überraschend einfach. »Dieser einzig schwierige Teil war von keiner großen Ausdehnung«, schrieb Whymper in dem Buch Scrambles Amongst The Alps (dt.: Matterhorn. Der lange Weg zum Gipfel ). »Um Viertel vor zwei lag die Welt zu unseren Füßen und das Matterhorn war besiegt. Hurra! Nicht ein Fußstapfen unserer italienischen Nebenbuhler war zu sehen.« Die »Nebenbuhler« waren bereits am 11. Juli von Süden aus aufgebrochen. Als Whymper und seine Leute vom Gipfel aus auf den südwestlichen Grat blickten, erkannten sie die Italiener und riefen lauthals spöttisch hinunter. Der Ausspruch »Der Berg ruft« war geboren und wurde später im Luis-Trenker-Film verewigt. Seitdem ist das Matterhorn in der Lage zu rufen, zu sprechen, zu lachen, zu singen, zu mahnen und zu weinen.
Whymper und seine Mannschaft machten sich nach der Erstbesteigung auf den Weg nach unten. Vorsichtig und aneinander angeseilt stiegen sie Schritt für Schritt ab. Whymper ging hinten und bekam nicht genau mit, was vorne passierte. »Ich hörte von Croz einen Ausruf des Schreckens und sah ihn und Hadow abwärts fliegen. Im nächsten Moment wurden Hudson und unmittelbar darauf auch Lord Douglas die Füße unter dem Leib weggerissen.« Dann riss zwischen Taugwalder vor ihm und Lord Douglas das Seil. »Einige Sekunden lang sahen wir unsere unglücklichen Gefährten auf den Rücken niedergleiten und mit ausgestreckten Händen nach Halt suchen. Noch unverletzt kamen sie uns aus dem Gesicht, verschwanden einer nach dem anderen und stürzten von Felswand zu Felswand auf den Matterhorngletscher, in eine Tiefe von beinahe 1200 Metern hinunter.« Die Nachricht der Tragödie ging um die Welt und zugleich – so sind die Menschen nun mal – schoss das Interesse am Matterhorn und Zermatt in ungeahnte Höhen.
MATTERHORN, 4478 M
Whymper stieg am Tag nach dem Unglück auf den Gletscher, um die Leichen seiner Kameraden zu bergen. Was er damals sah, beschrieb er erst im Alter von 71 Jahren in einem Brief an einen Hotelier: »Es hatte ihm [Groz] den oberen Teil des Schädels abgerissen. Wie die anderen Mitglieder der Gruppe war er gänzlich nackt. Ihre Bergschuhe und all ihre Kleider waren weggerissen worden. Es war ein schreckliches Schauspiel, Herr Tairraz, und ich möchte niemals wieder dergleichen ansehen müssen.« Whympers Buch endet mit einer Warnung: »Ersteigt die Hochalpen, wenn ihr wollt, aber vergesst nie, dass Mut und Kraft ohne Klugheit nichts sind und dass eine augenblickliche Nachlässigkeit das Glück eines ganzen Lebens zerstören kann. Übereilt euch nie, achtet genau auf jeden Schritt und bedenkt am Anfang, wie das Ende sein kann!« War diese Warnung an mich gerichtet? »Douglas und Hadow waren einfach zu jung für mich«, sagte das Matterhorn von oben herab, als ich unterhalb des Theodulpasses entlangwanderte, »aber da kann ich doch nichts dafür.« »Bin ich denn auch noch zu jung?«, fragte ich, und dann donnerten einige Steine lautstark durch die Ostwand. »Das Glück ist eine Allegorie, das Unglück eine Geschichte«, sagte das Matterhorn weise. »Was genau meinst du?«, fragte ich. »Auf einem mit Rubinen, Azur und Gold geschmückten Wagen«, entgegnete es mir, »fährt Apoll und wirft sein gleißendes Licht.« »Du bist verrückt geworden«, sagte ich erschrocken, und es antwortete mit der überschnappenden Stimme Klaus Maria Brandauers: »Ja! Das wäre möglich!« Ich gab es auf.
Und so vergingen wieder ein paar Jahre, ehe der Berg mich wieder rief. Diesmal zog mich der Berg zum ersten Mal zur Hörnlihütte auf 3260 Meter hinauf, auf einem zum Teil schon ziemlich ausgesetzten Pfad, der sich hinter dem Schwarzsee nach oben windet, und der doch für die Bergsteiger nur ein Spaziergang ist, der sie zum eigentlichen Ausgangspunkt ihres Vorhabens bringt. Und erstmals befasste ich mich konkret mit der Frage, wie es abläuft, wenn man das Matterhorn wirklich besteigen will, wie fit man sein muss, was man können muss, wie schwer es tatsächlich ist. Der Chef des Bergführerbüros in Zermatt erzählte mir, dass man von der Hütte aus mit einem Bergführer vier Stunden nach oben braucht, und dann vier Stunden wieder runter. »Es gibt keinen Berg auf der Welt, der im Aufstieg genau so lange dauert wie im Abstieg«, erklärte er, erzählte beiläufig, dass die meisten Kunden männlich und zwischen 40 und 50 Jahre alt seien. Dann stellte er mir einige Fragen: »Warst du bereits auf vielen Viertausendern? Bist du regelmäßig in den Bergen unterwegs? Bist du fit, hast alpine Felsklettererfahrung und bist am Felsen und am Eis auch mit Steigeisen sehr geübt? Bist du gut akklimatisiert, weil deine letzte Hochtour nicht weit zurückliegt?«
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