Der alte Schustertisch des Michael Rogger, des „Ur-Reimmichl“, hat die Zeiten überdauert; heute dient er als Werkzeugablage.
(Foto: Archiv)
Rieger begann zuerst in unregelmäßigen Abständen kleinere Geschichten für dieses neue Wochenblatt zu schreiben. Herausgeber und Schriftleiter kannte er von seinen Brixner Tagen her, Die Themen lieferte ihm am Anfang ein Sextener Original. Und das kam so:
In Sexten im Unterdorf lebte und arbeitete der alte Schuster Michael Rogger. Beim „Unterschmiedergütl“ oder „Gaaser“ lautete der Hausname. In seinen jungen Jahren hütete nämlich der Michl Rogger zwanzig Sommer hindurch im nahen Fischleintal die Ziegen der Sextener Bauern. Die Ziege oder Geiß heißt in der dortigen Mundart Gaas. Deshalb nannten ihn die Leute „Gaaser“, ein Übername, der den alten Hausnamen dann in den Hintergrund drängte.
Dieser alte Schuster Michl Rogger war ein begnadeter Erzähler und unterhielt seine Kundschaft und die Nachbarn mit seinen Geschichten. So trafen sich die Leute gern zum Feierabend in seiner Werkstatt und lauschten gespannt den Erzählungen. Auch der neue Kooperator zählte gelegentlich zu den Zuhörern und war von der Originalität des alten Mannes begeistert. Daheim machte er sich dann sogleich Notizen von dem Gehörten, aus denen die ersten Kurzgeschichten entstanden, die kurze Zeit später im „Tiroler Volksboten“, mit R (für Rieger) oder S. R. (für Sebastian Rieger) gezeichnet, erschienen.
Das Bild aus Reimmichls Dölsacher Zeit (1894–1897) zeigt den hochverehrten Pfarrer Johann Treyer (sitzend) im Kreis der „Widumsfamilie“; der junge Kooperator mit Pfeife ist Reimmichl. (Repro O. Voght)
In einem nächsten Schritt leitete er die Kurzgeschichten mit der Überschrift ein: „Was der Michl (nämlich der Rogger Michl) erzählt“. Wer hinter dem Namen Michl stand, wusste kein Leser.
Nun wurde aber der „Tiroler Volksbote“ auch in Sexten bereits fleißig gelesen. Eines Tages hält der alte Michl dem Sebastian Rieger mit der Bemerkung „Sie sind mir ja ein schöner Reim-Michl“ eine Ausgabe des „Tiroler Volksboten“ unter die Nase. Der Michl hatte nämlich eine seiner Erzählungen wiedererkannt, die der Kooperator diesmal nur wenig verändert ins Blatt setzen ließ. Die Art, tatsächliche Ereignisse mit teilweise erfundenen auszuschmücken und zu ergänzen, nannte man seinerzeit in der Volkssprache „reimen“. Erhalten geblieben ist der Ausdruck in der Redewendung „sich etwas zusammenreimen“.
Sebastian Rieger gefiel diese Wortschöpfung des alten Schusters und er schrieb nun ab 1. März 1894 seine Geschichten unter der Überschrift: „Was der Reimmichl erzählt“. Die Leser liebten diese Geschichten und lasen sie mit Begeisterung. Jedes Mal wenn ein neuer Volksbote erschien, hieß es: „Was der Reimmichl wohl diesmal wieder schreibt?“. Dieser Satz wurde gleichsam zu einem geflügelten Wort und es dauerte nicht lange, bis der Name Reimmichl auf den Autor überging.
Das Unterschmiedergütl des alten Rogger steht heute nicht mehr. An seiner Stelle errichtete der Ururenkel einen modernen Neubau. Die Schusterbank aber, an der der „Ur-Reim-Michl“ alt wurde, hat die Zeiten als Erinnerungsstück überdauert und steht nun im neuen Haus.
Die Zeit verflog und bereits nach zwei Jahren übersiedelte Reimmichl in das sonnige Dölsach bei Lienz. Rückblickend hielt er die nun folgenden drei Jahre für die glücklichsten und unbeschwertesten seines Lebens. Und wieder war es ein Pfarrherr, der großen und entscheidenden Einfluss auf Reimmichl als Seelsorger ausübte. Johann Treyer (1812–1899) wirkte über 20 Jahre als Pfarrer in Dölsach. Selbst ein ausgezeichneter Sänger, förderte er besonders die Kirchenmusik; er sorgte für die Renovierung der Kirche, schaffte neue Paramente (liturgische Gewänder), Festtagsleuchter und eine herrliche Monstranz an, denn festliche Gottesdienste an hohen Feiertagen in der schön geschmückten Kirche waren ihm ein Anliegen, um so besser das Herz der Gemeinde ansprechen zu können. Hohen Stellenwert hatte für ihn die Gastfreundschaft. Bereitwillig stellte er Besuchern Küche und Keller zur Verfügung. Deshalb kam man auch gern im Dölsacher Widum zusammen, und das freute Pfarrer Treyer. In seiner Gegenwart durfte allerdings kein böses Wort über Mitmenschen fallen und nie hat jemand aus seinem Mund ein solches gehört. Der Friede in der Gemeinde war ihm sehr wichtig. Hörte er von irgendeinem Streit, bemühte er sich persönlich und meist erfolgreich als Schlichter.
Es ist also kein Wunder, dass diese Priesterpersönlichkeit den jungen Kooperator beeindruckte und dass er ihn verehrte. Als Treyer 1899 starb, widmete ihm Reimmichl im „Volksboten“ einen ausführlichen, dankbaren Nachruf.
Es war üblich, dass ein Priester in den ersten Jahren öfters mit Versetzungen rechnen musste. Ziel war es, junge Priester unter der Anleitung eines Pfarrers Erfahrung sammeln zu lassen. Reimmichl war als Kooperator ein Jahr in Stilfes/Maria Trens, zwei Jahre in Sexten und drei Jahre in Dölsach. Dann hieß es wieder packen. Das nächste Ziel war Sand in Taufers nahe Bruneck. Kaum hatte er sich in seiner neuen Wirkungsstätte eingerichtet, kam nach einem halben Jahr bereits der nächste Marschbefehl, dem er nur sehr widerstrebend folgte. Am fürstbischöflichen Hof in Brixen wurde beschlossen, Sebastian Rieger aus der Seelsorge herauszunehmen und ihm für die nächste Zeit die Redaktion der „Brixner Chronik“ und des „Tiroler Volksboten“ zu übertragen.
Der bisherige Redakteur Sigismund Waitz, ein Freund Reimmichls und späterer Erzbischof von Salzburg, stand nämlich vor einer Operation, der eine längere Genesungszeit folgen würde.
Dass die Entscheidung auf Rieger fiel, hing mit seiner erfolgreichen Mitarbeit beim „Tiroler Volksboten“ zusammen. Reimmichl hatte mit seinen Beiträgen und Geschichten schnell Aufmerksamkeit erregt und bereits eine begeisterte Leserschaft gewonnen.
Reimmichl folgte dem Ruf zwar mit gemischten Gefühlen, andererseits erwartete er sich aber in der Bischofsstadt mehr geistige Anregung als am stillen Land.
Der englische Althistoriker Ronald Syme (1903–1989) hielt es „für vermessen und unbillig, an eine historische Person andere Maßstäbe anzulegen als die seiner Zeit, seiner Klasse und Stellung“. Diesem Grundsatz folgend, soll nun als Einleitung zu diesem Abschnitt die Zeit, in der Reimmichl als einflussreicher Redakteur wirkte, in groben Zügen beleuchtet werden.
Die Menschen des 19. Jahrhunderts lebten in einem Obrigkeitsstaat, in dem alles von oben festgelegt und geregelt wurde. Die Obrigkeit bestimmte, was rechtens und erwünscht war. Auch die persönliche Lebenswelt des Einzelnen war geregelt. Die Gesellschaft gab für den Einzelnen unter dem Einfluss von Staat und Kirche die Verhaltensnormen vor. Die Kontrolle der Einhaltung übernahm die Gemeinschaft selbst, wobei die dörfliche strenger richtete als die städtische. Wer sich nicht an die gesellschaftlichen Normen hielt, wurde zum Außenseiter und an den Rand verbannt oder ausgestoßen.
Eine Teilnahme der Bürger am öffentlichen Entscheidungsprozess begann erst mit der Verfassungsreform 1861 und entwickelte sich innerhalb der nächsten Jahrzehnte zu unserem heutigen demokratischen Selbstverständnis.
Neben dem Staat spielte die katholische Kirche eine bedeutende Rolle. Dabei ist zweierlei zu berücksichtigen. Die katholische Kirche regelte über die Glaubens- und Sitttenlehre – damals ein häufig gebrauchtes Begriffspaar – und die daraus entstandenen Gebräuche das Leben der Menschen bis tief hinein in den Alltag. Es gab keinen Unterschied zwischen Kirche und Glaube. Der alte Grundsatz des Cyprian von Karthago (um 200–258) „Außerhalb der Kirche gibt es kein Heil“ stand außer Zweifel. Als richtige Religion war für die Kirche und die Bevölkerungsmehrheit nur die katholische denkmöglich. Glauben bedeutete die vollinhaltliche Annahme der Glaubens- und Sittenlehre der Kirche, jede Infragestellung galt automatisch als ein als Angriff auf die Institution Kirche. Von daher ist auch der verbissene Kampf gegen die Protestanten, die als Abtrünnige galten, erklärbar. Nur ganz langsam und erst spät änderte hier die katholische Kirche ihre Sicht und Einstellung.
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