Der Wastl war kein Musterschüler, aber er zählte zu den guten und lernte viel im Vinzentinum. Reimmichl konnte – da staunen gewiss heutige und ehemalige Lateinschüler – in der Sprache Ciceros und Cäsars nicht nur Aufsätze schreiben, sondern sogar sprechen! Auch anmutige lateinische Verse gingen ihm leicht von der Hand. Und doch, „Deutsche Sprache und Literatur“ war neben Geschichte und Geografie sein Lieblingsfach. Im deutschen Reimen hatte er zu Beginn allerdings seine Schwierigkeiten, da flossen die Zeilen nur zäh aus der Feder. Aber im Laufe der Zeit legte sich der Wastl eine reichhaltige Sammlung an Reimwörterpaaren an und nun flossen die Gedichte wie eine sprudelnde Quelle. Bereits als Gymnasiast versuchte er sich an Novellen und Dramen, die bereits ein gewisses Talent erkennen ließen.
Seine Aufsätze zeigten von Anfang an Phantasie und Stilsicherheit, sodass sie – wie Mitschüler berichteten – oft als beispielhaft vorgelesen wurden. Dieses Talent wurde sicher auch dadurch gefördert, dass er gern und viel klassische und moderne Literatur las. Dieses viele Lesen, auch bei ungünstigen Lichtverhältnissen, denn es gab noch kein elektrisches Licht, forderte seinen Tribut. Die Sehkraft ließ zu wünschen übrig und der Wastl brauchte Brillen, an die er sich nur langsam gewöhnte.
Viel Schweiß hat dem Wastl die Rechenkunst und die Mathematik gekostet. Kurz gesagt, er stand mit ihr auf Kriegsfuß, was ihm so manchen Sechser einbrachte – das entsprach damals dem heutigen Fünfer. Sprachen hingegen machten dem jungen Studenten Freude, nicht nur Latein und Griechisch. Er lernte auch Französisch und Italienisch. Italienisch sprach er recht gut, immerhin wurde im südlichen Tirol (Trentino) Italienisch gesprochen. Auch war es ihm von Nutzen, als ihn später mehrere Reisen nach Italien führten. Französisch brach er allerdings bald wieder ab.
Dann kam die Zeit – die ersten Barthaare sprossen schon –, als der Wastl mit dem fernen Amerika in Berührung kam, wenn auch nur in Form von Zigarren aus Puerto Rico. Der erste Versuch, sich an köstlichem Rauch zu erfreuen, endete kläglich mit Erbrechen und Durchfall. Trotzdem erlernte er später doch noch das Rauchen und es wurde zu seinem größten Laster.
In den Ferien daheim ließ es sich der Wastl gut gehen. Man sah ihn kaum jemals bei der Heuarbeit oder im Stall. Für den Bauernstand aber zeigte er lebhaftes Interesse, für bäuerliche Sitten und Gebräuche, für die wirtschaftliche und soziale Lage der Landwirtschaft. Lesen, Gitarre spielen und singen, ab und zu eine Wanderung zu Marienwallfahrten in der näheren und weiteren Umgebung oder die Besteigung eines Joches brachten ihm Erholung. Jeden Dienstag fand in einem Gasthaus das Treffen der Deferegger Studenten statt. Dabei übernahm oft Reimmichls Vater die ganze Zeche.
An einem selten klaren Augustmorgen des Jahres 1884 erlebte Reimmichl am Gipfel des Großglockners einen überwältigend schönen Sonnenaufgang. „Weder vorher noch später habe ich jemals so etwas Großes gesehen.“
(Foto: W. Mair)
Ein Sonnenaufgang am Gipfel des Großglockners prägte sich tief in das Gemüt und die Erinnerung des damals Siebzehnjährigen ein. Dieses unvergessliche Naturschauspiel weckte in Reimmichl eine leidenschaftliche Liebe zur Heimat, zum Land Tirol. Noch im hohen Alter erzählte er von jener beglückenden Morgenstunde auf dem Gipfel. Von daher rührte auch seine heiße Liebe zu den Bergen, die in vielen seiner Geschichten beredten Ausdruck findet.
Nach acht Jahren Freud und Leid, Erfolgen und Misserfolgen, erlebter Geselligkeit und Kameradschaft trat Wastl im Frühsommer 1880 zur Reifeprüfung an: In Deutsch „vorzüglich“, in den Sprachen je ein „sehr gut“. Nur die Mathematiknote verhinderte ein Vorzugszeugnis. Er durfte aber zufrieden sein. Aus dem schüchternen Bübl aus dem hintersten Tal war ein junger Mann geworden, der sich zwar noch immer in Bescheidenheit übte, aber gleichzeitig wusste, was er wollte: Priester werden.
Man ging vom Kreuzgang „übers Brüggele“ zum Brixner Priesterseminar, einem Barockbau aus dem Jahre 1771.
(Foto: Herzog)
Östlich des Brixner Dombezirks, jenseits des Kreuzganges, floss früher die Wier (= Wehr, aufgestautes Wasser), ein Nutzwasserkanal, der – vom Eisack gespeist – unterhalb von Vahrn begann und an dessen Ufern Müller, Schmiede, Gerber u. a. ihrem Gewerbe nachgingen. Über diesen Kanal führte eine schmale Brücke (Brüggele). Wollte man nun vom Dombezirk zum Priesterseminar, musste man über selbiges gehen. Im Volksmund sagte man daher von jemandem, der ins Priesterseminar eingetreten ist, dass er „übers Brüggele“ gegangen wäre.
Die Frage, welchen Beruf er ergreifen sollte, bereitete Reimmichl nach der Matura kein Kopfzerbrechen. Der Wunsch Priester zu werden war in ihm während der acht Jahre im Vinzentinum stetig gewachsen und gereift, und so beschritt er im Herbst 1888 in voller Überzeugung, den richtigen Schritt zu tun, den Weg „übers Brüggele“ ins Priesterseminar, wo er mit den meisten seiner Klassenkameraden wieder zusammentraf.
Bis zum Ersten Weltkrieg zählte das Brixner Priesterseminar zu den berühmtesten Theologischen Lehranstalten des ganzen Habsburgerreiches. Gleichzeitig galt es als ein Bollwerk gegen Liberalimus und wurde zu der Zeit, als Reimmichl dort studierte, zur Hochburg christlichsozialer Ideen.
Das heutige Seminar steht auf den Fundamenten eines mittelalterlichen Hospizes, wurde 1771 als Barockbau errichtet und ist mit wertvollen künstlerischen Arbeiten ausgestattet. Joseph Ratzinger ist dem Seminar seit vielen Jahren eng verbunden. Zehnmal verbrachte er als Kardinal und einmal als Papst seinen Sommerurlaub im Brixner Priesterseminar.
Bis 1938 war das Brixner Seminar die Bildungsstätte auch für die Nordtiroler Anwärter, ehe ihnen diese Möglichkeit auf Grund der politischen Verhältnisse genommen wurde und ihnen die Jesuiten im Innsbrucker Canisianum Aufnahme geboten haben. 1955 wurde dann in der Innsbrucker Riedgasse das neue Priesterseminar errichtet.
Das Theologiestudium betrieb Sebastian Rieger gewissenhaft und mit bestem Erfolg. Er blieb der tiefgläubige, lebensfrohe und gemütsvolle Wastl. Welterfahrene Professoren weiteten seinen Blick für die sozialen Probleme des Volkes, denn bereits zu dieser frühen Zeit hörten die Priesteramtskandidaten in Brixen sozialwissenschaftliche Vorlesungen.
Rieger brannte für seine kommende Aufgabe als Seelsorger, dabei sah er im aufstrebenden Tourismus eine Gefahr für Glaube und Sitte im Land. In jugendlichem Eifer lehnte er ihn weitgehend ab. Für eine seiner Probepredigten im Speisesaal des Priesterseminars wählte er das Thema „Fremdenverkehr“. Dabei zog er alle Register und schoss in der Verurteilung weit übers Ziel hinaus.
Dr. Franz Egger, der Regens und spätere Bischof von Brixen, rief den feurigen Prediger anschließend zu sich und fragte ihn, ob er auch draußen in der Seelsorge so zu predigen gedenke. Und nach einer kurzen Pause: „Herr Rieger, so geht das wohl nicht.“
Reimmichl erzählte in späten Jahren oft von dieser Episode und lachte über sein damaliges jugendliches Ungestüm, denn im Lauf der Jahre hat er sehr wohl erkannt, dass der Tourismus für Bevölkerung und Land auch viel Positives brachte.
Erinnerungsbildchen an Reimmichls Primiz.
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