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Camilla Ortega rutschte auf einen freien Barhocker und bestellte sich einen Scotch. Dann wechselte sie den Platz und setzte sich ans andere Ende des Raumes, von wo sie einen direkten Blick auf Emma hatte, die nun mit den Männern an einem Tisch saß.
Frau Ortega war seit zwanzig Jahren Journalistin und arbeitete bei einer der prestigeträchtigsten Zeitungen Südamerikas namens Nacional De Venezuela. Fast die Hälfte ihrer Karriere widmete sie nun schon der Frage, was mit der Cartwright-Expedition von 2018 geschehen war.
Sie nippte an ihrem Drink, während sie die anderen beobachtete. Ihre Theorie war, dass die Amerikanerin sie alle ermordet hatte, um sich in das Herz der alten Frau Cartwright zu mogeln und Alleinerbin ihres Vermögens zu werden.
Die Geschichte hatte sich jedoch als Sackgasse entpuppt, aber dann hatte ihr ein Kontakt in der Ausländerbehörde erzählt, dass Emma Wilson nun wieder Reisen nach Südamerika unternahm, und das hatte Camillas journalistische Sinne angeregt. Wilson hatte etwas vor, das spürte sie ganz genau, und sie wusste auch, dass dies vielleicht ihre letzte Chance war, die Wahrheit herauszufinden.
Camilla trank noch einen Schluck und sah weiter zu. Sie hatte zwar keinerlei Beweise, aber sie wusste, dass Mörder früher oder später immer an den Ort ihres Wirkens zurückkehrten. Und genau das hatte Emma Wilson jetzt vor.
Unauffällig zog Camilla ein Notizbuch und einen Stift aus ihrer Tasche und legte sie neben sich auf einen Stuhl. Sie tat so, als würde sie einfach nur ins Leere starren, dabei hielt sie die Gruppe genau im Blick und machte sich ununterbrochen Notizen. Es gab eine besondere Fähigkeit, die sie im Zuge ihrer Karriere erlernt hatte: das Lippenlesen. Während Emma und die Männer ihre Pläne diskutierten, schrieb sie alles mit.
Nach zehn Jahren sah es endlich so aus, als stünde ein kriminelles Puzzle kurz vor der Auflösung. Und diesmal würde Camilla ganz vorn mit dabei sein.
1948, über dem tiefsten Amazonasdschungel – zur Zeit der Erscheinung des Kometen
Der Gefreite John Carter grinste, als er in seiner Corsair-Kampfmaschine über die Baumwipfel donnerte. Die USS Bennington, der riesige Flugzeugträger der Essex-Klasse, war auf dem Rückweg nach Bermuda, und er und ein paar andere Piloten waren ausgesandt worden, das östliche Gebiet des südamerikanischen Kontinents auszukundschaften.
Im Grunde genommen hatte er einen wirklich sicheren Arbeitsplatz. Der Krieg war seit drei Jahren vorbei und es gab nicht einmal mehr verblendete Einzelkämpfer, die ihnen noch gefährlich werden konnten. Nach dem Ende des Konflikts hatten die meisten Männer und Frauen ihren Kriegsdienst an den Nagel gehängt und ihr normales Leben weitergeführt. Für Carter war das jedoch nichts; er liebte die Navy, er liebte das Fliegen, und deswegen war das hier sein Leben.
Und in diesem Moment spürte er ganz genau, warum das so war: Er ging hinunter und kam dem dichten Urwald noch näher. Dann drückte er den Schubregler nach vorn und spürte, wie der riesige Motor von Pratt&Whitney seine 2000 Pferdestärken mobilisierte. Hier oben war er frei wie ein Vogel, und da der Krieg zu Ende war, konnte er seine Flugstunden ohne jegliche Angst genießen.
Carter war einige hundert Meilen von der Ostküste Venezuelas entfernt und befand sich über nicht kartografiertem Dschungel. Er kicherte in Gedanken – war überhaupt irgendetwas davon schon erforscht? Er machte sich jedenfalls keine Sorgen, denn die Corsair hatte eine Reichweite von tausend Meilen und war so unverwundbar wie John Wayne mit seinem Colt. Okay, die Dinger ließen sich ein bisschen schwer auf dem Flugzeugträger landen, deswegen nannte man sie die Witwenmacher mit den schiefen Flügeln, aber er und seine Maschine waren sich so vertraut wie ein altes Ehepaar.
Carter und fünf seiner Kollegen waren über einen Radius von 250 Meilen verstreut und würden noch 200 weitere fliegen, bevor sie zur Bennington zurückkehrten. Bisher war der Himmel strahlend blau, abgesehen von einem kleinen Fleck am Horizont.
Er kniff die Augen zusammen; das war merkwürdig. Es sah ein bisschen wie ein Sturm aus, befand sich jedoch nur über einem vergleichsweise winzigen Teil des Dschungels. So eine Wetterformation hatte er noch nie gesehen. Er meldete es über Funk und bekam die Freigabe, einen genaueren Blick darauf zu werfen.
Carter stieg auf eine Flughöhe von etwa 500 Metern auf und sah, dass die dicken, lilafarbenen Wolken an einer bestimmten Stelle des Dschungels festzuhängen schienen. Als er näher kam, sah er, dass diese Wetterformation auch nach oben hin begrenzt war. Und was am merkwürdigsten war, sie rotierte, wobei sie nach innen immer dichter wurde. Er flog weiter darauf zu und beschloss, über sie hinwegzufliegen, um einen Blick ins Zentrum dieses schleichenden Wirbelsturms zu werfen.
Das sollte sich als keine gute Idee herausstellen. Sobald er sich über den wogenden Wolken befand, sprangen alle möglichen Warnlampen an und zu seinem Entsetzen fing der Motor an zu stottern.
»Tu mir das nicht an, Baby!«
Doch sie tat es – die Maschine schaltete sich einfach ab.
»Mayday, Mayday, ich stürze ab!« Er warf einen kurzen Blick auf seine Instrumente, um seine Position durchzugeben, doch die Zeiger hingen alle fest.
»Mein Gott!« Er wusste, dass das Funkgerät vermutlich auch nicht mehr funktionieren würde, doch die Dinge, die er in seiner Ausbildung gelernt hatte, übernahmen jetzt das Kommando. Auf etwas anderes konnte er sich auch nicht mehr verlassen.
»Hier ist Leutnant John Carter, letzte bekannte Position 5.9701 Grad nördlich, 62.5362 Grad westlich, etwa 240 Meilen von der venezolanischen Küste entfernt. Der Motor ist ausgefallen, ich stürze ab. Ich wiederhole: Ich stürze ab.«
Carter schaute aus dem Cockpitfenster, als sein Flugzeug in die Wolkenschicht eintauchte. Die Sichtweite sank sofort auf null.
Die Corsair war ein fantastisches und effektives Kampfflugzeug, aber sie konnte nicht gut gleiten. Schnell drehte sich die Nase nach unten und sie nahm Tempo auf.
»Was zum …?« Carter hatte das Gefühl, in den Nebelschwaden die Umrisse anderer Flugzeuge fliegen zu sehen, die jedoch größer waren als seine Maschine.
Er war nun nur noch zweihundert Meter über dem Boden und wusste, dass er keine andere Chance hatte, als auszusteigen. Doch in dem Moment, als seine Hand nach oben ging, um das Glasdach zurückzuschieben, brach er durch die Wolken und sah den Dschungel unter sich.
Aber das war nicht der Dschungel, über den er eben noch geflogen war. Um genau zu sein, sah es wie keiner der Dschungel aus, über die er im Verlaufe seiner Karriere geflogen war. Er bestand aus komischen, riesigen Stämmen, deren Blätter eher aussahen wie überdimensionale Grashalme. Dazu gab es fleischige Farne, spindeldürre Zikaden und in der Ferne einen glitzernden See, der das Licht aus einem langsam wachsenden Loch in der Wolkendecke reflektierte.
Carter war erleichtert, dass die anderen Flugzeuge, die er gesehen hatte, immer noch über die Baumwipfel flogen. Aber Moment, das waren gar keine Flugzeuge, das waren gottverdammt riesige Vögel! Oder besser gesagt riesige Fledermäuse mit Krallen an ihren Flügeln!
Ich verliere den Verstand , dachte Carter.
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