Sandra Newman
Aus dem Englischen von Milena Adam
Für Howard
Teil I I
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Teil II
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Teil III
Kapitel 23
Danksagung
I
Ben lernte Kate auf einer Party kennen. Die Gastgeberin war reich, er kannte sie nicht persönlich. Es war eine dieser Partys, wo niemand die Gastgeberin kannte. Er war mit einer Arbeitskollegin der Cousine der reichen Gastgeberin gekommen, die er im Gedränge sofort verloren hatte. Ursprünglich war ein Abendessen geplant gewesen, doch die Einladungen hatten sich verselbstständigt, waren wie eine Epidemie von Freunden an Freunde weitergereicht worden, und schließlich gab es an die hundert Zusagen. Also öffnete die reiche Gastgeberin beide Etagen, machte Bowle statt Risotto und bestellte bei einem chinesischen Restaurant tausend Teigtaschen. Es war August, und man musste den Dingen ihren Lauf lassen. Das war jedenfalls ihre Einstellung, denn sie alle waren damals in ihren Zwanzigern.
Auf der Party wurde hauptsächlich Französisch gesprochen, ruhiges Geplauder erfüllte die Räume; es war eine Party mit in die Nacht hinaus geöffneten Fenstern, mit Leuten, die auf dem Boden saßen und sich unterhielten. Die Festbeleuchtung bestand überwiegend aus kleinen solarbetriebenen Lichtern, die die reiche Gastgeberin den ganzen Tag über zum Aufladen an die Feuertreppe gehängt hatte, um sie dann an den Wänden anzubringen. Das Licht spiegelte sich weich in den schweren Gläsern, in die der Wein geschenkt wurde. Es gab noch nicht einmal Musik. Die reiche Gastgeberin sagte, sie bekäme Alpträume davon. New York City – alle machten gerade ein Praktikum bei Condé Nast oder irgendeinem Fernsehsender oder der UN. Alle waren ein bisschen verliebt ineinander; wir schreiben das Jahr 2000 im wohlhabenden Westen.
Ben sprach an jenem Abend mit einem Dutzend junger Frauen. Er war nicht ernsthaft auf Partnersuche. Er hatte einen Job und promovierte, insofern hatte er keine Zeit für emotionale Anstrengungen. Trotzdem war es nett, hier und da ein bisschen zu flirten, die Macht zu spüren, die damit einherging, attraktiv und über eins achtzig groß zu sein. Ein Abend der aufgeschlossenen Körperhaltungen und geöffneten Lippen; eine so wohlige Seligkeit, als würde man auf einer Treppe in die Lüfte emporsteigen.
Um ein Uhr morgens stieg er in den Aufzug, um Zigaretten zu holen. Kate stand draußen auf der Eighty-Sixth Street, mit dem Hund der reichen Gastgeberin, der Gassi gehen musste. Sie trug ein locker sitzendes Kleid, das nicht wie ein Partyoutfit aussah; zunächst war er sich nicht sicher, ob sie zur Party gehörte. Dann erkannte er den Hund, Terriermischling mit einem Hauch Dackel, langgestreckt und zottelig. Süß. Ben blieb stehen, um den Hund zu streicheln.
Er ging los und kaufte seine Zigaretten. Als er zurückkam, stand Kate noch immer an derselben Stelle. Er blieb stehen, um zu rauchen. Fünf Minuten lang redeten sie zusammenhangsloses Zeug, dann war es, als würde ein Schalter umgelegt. Der Straßenlärm verstummte. Sie lächelten einander wortlos an. Schon in diesem Moment begann das seltsame Gefühl.
Kate sagte: »Wie heißt du?«
»Pedro«, sagte Ben.
Sie lachte. »Ach, ich hab dich schon gefragt, oder? Du hast was anderes gesagt.«
»Nein.« Er lächelte albern. »Ich glaube nicht, dass du mich gefragt hast.«
»Doch, aber ich weiß nicht mehr, was du gesagt hast.« Sie nickte dem Hund zu. »Ihren Namen habe ich auch vergessen. Wenn wir jetzt die Stadt verlassen, irgendwo hinfahren, wo niemand uns kennt, dann hättet ihr beiden keine Namen.«
»Ich könnte Pedro sein.«
»Nein, ich weiß, dass du nicht Pedro bist.«
»Ich könnte Rumpelstilzchen sein.«
»Abgemacht.«
Er lachte, sie jedoch nicht. Sie stand einfach da, lächelte ihm ihre Zuneigung entgegen. Er rauchte seine Zigarette zu Ende. Dann hätte er zurück zur Party gehen sollen, was er aber nicht konnte. Es war sonderbar.
Und sie unterhielten sich eine Weile über den Hund und darüber, wie es wäre, nach Südamerika durchzubrennen, über das Boot, auf dem sie leben und die Schmuggler, denen sie begegnen würden, und die Sonnenuntergänge über dem türkisfarbenen Meer mit seinen Stränden voller Blaukrabben, und es fühlte sich an, als wären sie noch jünger als ohnehin, als hätten sie noch keine Jobs.
Kate hatte ungarisch-türkisch-persische Wurzeln: drei romantische, aber unpraktisch veranlagte Stämme; drei Völker, die ihre Weltreiche verspielt hatten. Ihre Vorfahren trugen Juwelen im Bart, schwangen im vollen Galopp die Schwerter. Bei ihnen habe es entweder Opiumhöhlen oder Stalinismus gegeben, nichts dazwischen; das sagte Kate und lachte über sich selbst.
Ben war halb bengalisch, halb jüdisch. Das hätte eine interessante Mischung sein können, aber die Realität war eher unspektakulär. Seine Vorfahren waren Rabbiner, Ladenbesitzer, Anwälte gewesen; in Ben stieg die Ahnung auf, dass das im Vergleich zu ihr uncool wirken könnte, und er musste dieses Gefühl bewusst unterdrücken. Er sagte: »Meine Familie hat nie die Schwerter geschwungen, aber ich bin jederzeit bereit, es auszuprobieren.«
Sowohl Ben als auch Kate hatten einen dunklen Teint, schwarze Augen und Adlernasen; sie sahen aus wie Angehörige ein- und desselben undefinierbaren Stammes. Sie kommentierten diese Ähnlichkeit mit selbstironischen Ausdrücken wie »beige« und »Zinken«, und freuten sich dermaßen darüber – über nichts –, dass sie begannen, mit dem Hund in Richtung Downtown zu laufen. Der Hund war ebenfalls beige. Ben machte sie darauf aufmerksam, und sie blieben stehen und hockten sich hin, um ihre Arme mit seinem Fell zu vergleichen; dabei berührten sie sich zum ersten Mal. Der Hund leckte ihre Hände ab und verhinderte, dass mehr passierte. Dennoch hatte es definitiv einen Funken gegeben.
Auf dem Weg zurück zur Wohnung tauschten sie jene Informationen aus, die man auf Datingportalen in sein Profil schreibt. Es fühlte sich an, als würden sie nachträglich den Papierkram für eine Sache erledigen, die sie unter der Hand bereits beschlossen hätten. Und dann, im Aufzug, als sie allein waren, sehnte Ben sich danach, sie zu küssen. Sie lächelte zur Tür hin, unküssbar, und strahlte den Gedanken an Sex aus. Sie traten hinaus, sie ließ den Hund von der Leine und hängte die Leine an die Garderobe. Ohne ein Wort gingen sie auf den Balkon.
Es war schon jemand dort – der Dauergast der reichen Gastgeberin, ein älterer Neuseeländer, den Kate bereits kannte und der später in ihrer beider Leben eine wichtige Rolle spielen sollte. Zu diesem Zeitpunkt aber verschwendete Ben kaum einen Gedanken an ihn. Seine Anwesenheit bedeutete nichts weiter, als dass er mit Kate nicht allein war. Der Neuseeländer erzählte von einem Garten, an dem er gerade arbeitete; er war Gartengestalter und nach New York gekommen, um jemandem, der sehr reich war, einen Garten anzulegen. Ben lauschte seinem Akzent und betrachtete ihn hauptsächlich als nützliche Unterbrechung, ein Mittel, das es ihnen ermöglichen würde, die nächste Etappe etwas sanfter anzugehen.
So standen sie also auf dem windigen Balkon, die Lichter New Yorks breiteten sich wie ein Sternenhimmel unter ihnen aus. Richtige Sterne gab es kaum zu sehen, und die wenigen schimmerten nur blass. Von diesem Standpunkt aus wirkte die Stadt strahlender und komplexer als der Kosmos; tatsächlich schien der Kosmos gewöhnlich, wie ein gerahmter Druck, der nur deshalb an der Wand hing, weil sie ohne ihn falsch aussähe. Es muss Bilder geben und es muss einen Kosmos geben, auch wenn niemand sie betrachtet. Und Ben sah verstohlen zu Kate und wünschte sich, er könnte ihr all das sagen; er war überzeugt, dass sie ihn verstehen würde.
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