Sie hatte eine längliche Nase und längliche, humorvolle Augen, einen vollen, lippenstiftroten Mund. Persisch , sagte er in Gedanken wie berauscht, persisch . Mit Absätzen war sie genauso groß wie er. Voll und rundlich, wie eine Katze mit viel Fell. Sie hielt sich unheimlich gerade, als würde sie niemals schlaff oder mit krummem Rücken an ihrem Schreibtisch sitzen. Sie lehnte sich nicht einmal ans Balkongeländer, sondern stand mit am Körper herabhängenden Armen da. Schwerelos. Eine königliche Haltung. Persisch .
Draußen erzählte sie ihm, dass sie Künstlerin sei – »Arbeiten auf Papier« –, und ihren Kunst-Bachelor am Pratt Institute abgebrochen habe.
»Wenn es etwas wie Geologie gewesen wäre, dann vielleicht«, hatte sie gesagt (weil er ihr erzählt hatte, dass er einen Abschluss in Geologie habe, obwohl er eigentlich Lyriker sei – publiziert , hatte er hastig hinzugefügt. Sie eilte ihm zur Hilfe: »Also ich lese Lyrik.« Er sagte: »Wirklich?« Sie sagte: »Gerade ist Apollinaire dran«, und zitierte Apollinaire auf Französisch, als wäre das für eine gescheiterte Kunststudentin vollkommen selbstverständlich. Danach hatte sie angefügt: »Mein Französisch ist furchtbar, tut mir leid«, und er hatte dummerweise mit »Ich auch nicht« geantwortet, weil er so enorm abgelenkt war und plötzlich in Begriffen der Liebe dachte.
»Wir sollten zurück zur Party«, hatte sie gesagt, und die Welt erkaltete. Wie war er so schnell an diesen Punkt gelangt?)
Und jetzt der windige Balkon, die überflüssigen Sterne, die Stadt als Mysterium glitzernder Türme. Kate und der Neuseeländer unterhielten sich über die Great-Man-Theorie in der Geschichte, der zufolge menschlicher Fortschritt von Menschen der Superlative wie Sokrates oder Mohammed abhing, die eigenhändig die Welt veränderten. Kate verteidigte diese Ansicht, während der Neuseeländer sich darüber lustig machte und nicht glauben wollte, dass sie es ernst meinte. Er sagte: »Wie kann jemand so viel besser sein als die anderen? Wir sind uns doch von der Biologie her alle total ähnlich.«
»Sie müssten nicht so viel besser sein«, sagte Kate. »Es kommen ja noch die äußeren Umstände hinzu, da kommt dann alles zusammen, wie bei allen ungewöhnlichen Vorkommnissen, einem Supervulkan oder schweren Erdbeben.«
Sie sah Ben an.
Ben sagte: »Schwere Erdbeben sind nicht so ungewöhnlich.«
»Ben ist Geologe«, erklärte Kate dem Neuseeländer.
»Aber ist er ein großer Geologe?«, sagte der Neuseeländer.
Kate lachte. Ben lachte auch, obwohl er sich fragte, ob dieser Seitenhieb seinem Ansehen bei Kate schaden würde. Der Neuseeländer verkündete, er wolle sich noch etwas zu trinken holen, und verschwand. Plötzlich raste Bens Herz. Bruchstücke des Apollinaire-Verses, den sie zitiert hatte, gingen ihm durch den Kopf: mon beau membre asinin … le sacré bordel entre tes cuisses (mein dummer, schöner Schwanz … das heilige Bordell zwischen deinen Schenkeln). Als sie das gesagt hatte, war es ihm auf jeden Fall wie ein Flirt vorgekommen. Doch vielleicht hatte sie wirklich nur Apollinaire im Sinn gehabt.
Jetzt lächelte Kate ihm vage zu und blickte zu den Balkontüren hinter ihnen. Ihr Gesicht fing das Licht ein, was einen Schimmer auf ihre ebene Wange legte. Eine neue Entschlossenheit erschien in ihrem Blick – einen schrecklichen Moment lang dachte er, sie würde ihn hier draußen stehenlassen. Doch sie wandte sich ihm wieder zu, lächelte bezaubernd und sagte: »Ich habe den Schlüssel für die Dachterrasse. Ich schlafe auf dem Dach, vielleicht wäre das ja auch was für dich.«
Er nickte, atemlos, während sie ihm erklärte, dass Sabine (die reiche Gastgeberin) eine gute Freundin von ihr sei. Kate schlafe häufiger auf dem Dach. Sie habe dort oben eine Luftmatratze liegen. »Sie hat einen Mechanismus, mit dem sie sich selbst aufbläst«, sagte Kate und machte eine Handbewegung, die den Mechanismus darstellen sollte.
Er lachte, ihm war ganz schwindlig. Er wiederholte die Bewegung, und Kate nahm ihm beim Ärmel, einfach so, und führte ihn zurück zur Party. »Ich frage Sabine, aber sie hat bestimmt nichts dagegen.«
Eine herrliche Brise ging durch die Wohnung, die zwei Stockwerke und zwölf Zimmer hatte und dem Onkel der reichen Gastgeberin gehörte; sie beherbergte seine Sammlung afrikanischer Trommeln, aus diesem Grund (irgendwie war diese Information zu jedem durchgedrungen) war die Klimaanlage immer eingeschaltet und alle Fenster mussten geschlossen sein, ansonsten würde die Luftfeuchtigkeit den Trommelhäuten schaden. Vermutlich kamen sie aus einem trockenen Teil Afrikas oder sollten regelmäßig von einer Riege längst ausgestorbener Handwerker neu bezogen werden, deren Nachfahren Ingenieure oder Postangestellte geworden waren. Jedenfalls waren die Fenster geöffnet, die Klimaanlage ausgeschaltet, und alle betrachteten die Trommeln, sprachen über sie im vollen Bewusstsein, dass die Party ihre Lebensdauer verringern würde.
Auch Ben erschienen die Trommeln nun als Opfergabe für das, was auch immer dieser Abend bedeuten sollte.
Sie fanden Sabine, die reiche Gastgeberin, im Gespräch mit drei Männern, die alle wesentlich größer waren als sie, weshalb sie in einem Hain aus Männern zu stehen schien. Sie sprachen Französisch und gestikulierten auf eine Weise, die Ben ebenfalls französisch vorkam. Sabine war sehr blond und ähnlich gebaut wie Kate, wobei ihre Kurven nicht aufreizend, sondern plump wirkten. Sie sah nicht reich aus; eher unglücklich und intelligent. Als Kate ihre Bitte vorbrachte, runzelte Sabine missmutig die Stirn, als sei dies nur eine weitere aus einer langen Reihe unmöglicher Forderungen von Kate, und sagte: »Meinetwegen. Mir doch egal.«
»Mir nicht«, sagte Kate, ging der Sache aber nicht weiter nach. Sie lächelte Sabine an, lächelte Ben an, die drei großen Männer, die verschwörerisch zurück lächelten.
»Ich will keine Umstände machen«, sagte Ben.
Da veränderte sich Sabines Ausdruck. Sie grinste, zauste Kate das Haar und sagte zu Ben: »Du wirst keine Umstände machen müssen, wenn du mit der hier schläfst. Dafür wird sie schon sorgen.«
Kate lachte fröhlich und sah Ben an, als hätte sie ein Kompliment erhalten. Die drei Männer sahen allesamt zu Kate, betrachteten sehnsüchtig drei verschiedene Teile ihres Körpers. Sabine sagte: »Viel Spaß«, wandte sich kategorisch wieder den drei Männern zu und nahm das vorangegangene Gespräch wieder auf. Widerstrebend lösten sie ihre Blicke von Kate.
Also nahm Ben sie mit wie eine Trophäe, die er für den Sieg über die drei Männer erhalten hatte, oder, anders betrachtet, er folgte ihr bereitwillig die Treppe hinauf, in vollkommener und anhaltender Hörigkeit.
Die Dachterrasse war aus hellem Massivholz und wurde von einem schlichten gusseisernen Geländer umfasst. Es gab einen Grill, einen Picknicktisch und hölzerne Gartenstühle. Ben erkannte kein Zeichen von Reichtum, wobei er auch nicht sicher war, was er erwartet hatte. Einen Brunnen? Es gab Gartengerät, aber keinen Garten, nur eine Reihe von Topfpflanzen vor dem Geländer – genauer gesagt mehrere Exemplare ein und derselben Pflanze, ein struppiges helles Grasgewächs mit einem leichten Violettstich. Die Luftmatratze, ein grünes Quadrat aus Planenstoff ohne Laken oder Decken, lag neben diesen Pflanzen. Sie war bereits aufgepumpt, und Kate setzte sich ohne zu zögern darauf, blickte Ben voller Ernst an, als forderte sie ihn auf, an einem großen Moment teilzuhaben.
Er kam zu ihr und setzte sich. Seine aufwallende Lust war verschwunden. Er rechnete ohnehin damit, dass sie sich noch dreißig Minuten unterhalten würden, bevor irgendetwas passierte. Und tatsächlich begann Kate, über das Gras in den Töpfen zu reden – es handele sich um eine bedrohte Art, deshalb sei die Dachterrasse für die Partygäste verschlossen geblieben und möglicherweise sei das auch der Grund, warum Sabine die Idee, Ben aufs Dach zu lassen, nicht mit Begeisterung aufgenommen habe, denn das Grasgewächs sei illegal. Ein Freund des Neuseeländers, ein Bergbau-Manager, habe es in seinem Firmenjet eingeschmuggelt. Es sei verboten, das Gras außer Landes zu bringen, was in diesem Fall allerdings dazu beitragen solle, das Gras vor dem Aussterben zu bewahren, ein Schicksal, dass ihm in seiner – vom Bergbau verwüsteten – Heimatregion in Argentinien bald bevorstünde. Auch die Topferde stamme aus Argentinien. So etwas passiere Sabine einfach – auf einmal falle es ihr zu, geschmuggelte Gräser zu hegen.
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