Mein Ziel ist es nicht, eine neue Gewissheit zu versprechen. Ziel ist es eher, Bearbeitungs- und Beschreibungsformen für das Ungewisse zu finden. Wird Geschichtsschreibung üblicherweise die Aufgabe zugewiesen, über das Seiende und vor allem das Gewesene zu versichern, möchte ich mich dafür starkmachen, die Verunsicherung weiterzutreiben, um zu neuen Auffassungen über die Welt in ihrer zeitlichen Konstituierung zu gelangen.[11]
Auch wenn es gewöhnungsbedürftig erscheinen mag, aber das Leben mit der Ungewissheit, mit der Unsicherheit, mit dem Unwägbaren ist durchaus begrüßenswert. Es geht dabei nicht um eine nachholende, selbst auferzwungene Naivität. Es geht nicht darum, nun an die Stelle von ›der Geschichte‹ die vielen kleinen Geschichten zu setzen, die gänzlich zusammenhangslos durcheinanderpurzeln. Es genügt also nicht, zu sagen, was man nicht mehr haben möchte. Es ist vielmehr deutlich zu machen, was an die Stelle des Kollektivsingulars treten soll.
Es ist richtig, wir brauchen nicht nur eine weitere alternative Geschichte, sondern wir brauchen eine Alternative zur Geschichte.[12] Aber das Ergebnis wird immer noch eine zu erzählende Geschichte ( story ) sein, wenn auch keine, die auf einem vorausgesetzten Kollektivsingular namens ›Geschichte‹ ( history ) beruht. Daher brauchen wir eine andere Geschichtsschreibung, um uns von ›der Geschichte‹ befreien zu können.
Die kritische Sicht auf den Kollektivsingular geht mit einer produktiven Seite einher. So spreche ich einerseits von einer negativen Geschichtstheorie. Denn man müsste, wollte man ›die Geschichte‹ als irgendwie sinnstiftende Gesamteinheit tatsächlich erfassen, außerhalb dieser Geschichte stehen. Weil das bisher aber noch niemandem gelungen ist, darf man auch berechtigten Zweifel an der Existenz des Kollektivsingulars anbringen. Das bedeutet nun keineswegs, das Vergangene oder die geschehenen Geschehnisse zu bezweifeln – es bedeutet eher, aus dem Kollektivsingular einen Kollektivplural zu machen, ein äußerst komplexes Gebilde von Vorgängen in der Zeit und Beschreibungen von der Zeit, die nicht gewillt sind, in einer eurozentrisch und damit auch chronozentrisch gedachten Einheit aufzugehen. Eine solche Geschichtstheorie ist also nicht negativ, weil sie Historisches ablehnen würde, sondern weil sich das Historische höchstens über den Weg der ausschließenden Negation bestimmen lässt – das aber niemals abschließend. Eine negative Geschichtstheorie sagt zwar, dass es ›die Geschichte‹ (als Kollektivsingular) nicht gibt, fragt aber zugleich, wie das Historische gegeben ist.
Weil also die Rede von ›der Geschichte‹ in dieser singularischen Form zu dem Eindruck führen kann (und nicht selten genug führt), es gäbe dieses bezeichnete Ding tatsächlich, spreche ich andererseits vom Historischen. Dieses substantivierte Adjektiv weist nicht auf ein konkretes Etwas dort draußen hin, sondern auf ein Konglomerat aus Eigenschaften, die Kollektive bestimmten Phänomenen ihrer Wirklichkeit zuweisen – Eigenschaften, die etwas mit dem Vergangenen zu tun haben und die Vergangenes konstituieren. Daraus resultiert aber noch kein in sich geschlossener Gesamtzusammenhang, sondern zunächst einmal die Einsicht in das menschliche Dasein als ein zeitliches.
Um die Offenheit und Vielfältigkeit dieser zeitlichen Existenz zu bewahren und nicht unter einem Kollektivsingular zu begraben, müssen wir die Geschichte zermalmen, um das Historische zu gewinnen. Écrasez l’histoire! Gagnez l’historique! An die Stelle der Transzendenz eines Kollektivsingulars Geschichte muss die Immanenz des Historischen treten. Bleiben wir diesseits der ›Geschichte‹. Nehmen wir nicht eine gottersatzartige Totalität namens ›Geschichte‹ an, der als allumfassender Gesamtheit alles zum Fraß vorgeworfen wird, was es gibt und was geschieht, sondern betrachten wir die zeitlichen Relationierungen, die Verbindungen zu Vergangenheiten, Zukünften, Ewigkeiten, Jenseitigkeiten (als Jen zeit igkeiten) und vielen anderen Zeiten, um der Vielfalt unseres zeitlichen Daseins zumindest einigermaßen gerecht zu werden.
Zugegeben, darin steckt eine doppelte Zumutung. Zum einen zeichnet sich eine solche Forderung nicht gerade durch übergroße Bescheidenheit aus. Und zum anderen kann ich noch nicht einmal den Anspruch erheben, mit diesem Buch bereits alle Schritte auf dem dazu nötigen Weg absolviert zu haben. Sollte mein Vorhaben halbwegs gelungen sein, dann finden sich auf den folgenden Seiten einige Irritationen und Verwirrungen über die Arten und Weisen wie Geschichte und Geschichten üblicherweise funktionieren. Es finden sich aber ebenso Vorschläge, wie man mit solchen Uneindeutigkeiten umgehen und wie man sie beschreiben kann.
Eines der vielen möglichen Argumente, weshalb eine Irritation des standardisierten Geschichtsverständnisses vonnöten ist, findet sich bei dem Semiotiker Jurij Lotman. Ihm offenbaren sich vor dem Hintergrund einer kulturtheoretischen Zeichentheorie die Schwierigkeiten historischer Erzählungen. Indem eine traditionelle Geschichtsschreibung das Geschehene als zwangsläufig und gewissermaßen natürlich präsentiert, treibt sie auch die Unbestimmtheit aus diesem Geschehen aus. Dabei ist es doch gerade die Unbestimmtheit, die als Wert und Maßeinheit von Information zu gelten hat. Präsentiert man ein vergangenes Geschehen als zwangsläufig und unabänderlich, wird nicht nur die Unbestimmtheit, sondern wird auch die Möglichkeit aus der historischen Arbeit vertrieben.[13] Ohne Unbestimmtheit wird eine kollektivsingularisierte Geschichte zu einem Schicksal, das man registrieren kann und hinzunehmen hat, büßt jedoch alle Eigenschaften eines Möglichkeitsraums ein.
Die hier versammelten Beiträge, die zu unterschiedlichen Anlässen entstanden und zu einem größeren Teil bereits an verschiedenen Orten publiziert worden sind, folgen drei zentralen, miteinander verbundenen Fragen: Wie sind etablierte Modelle von Zeit und Geschichte ausgestaltet – und warum sind sie ungenügend? Gibt es alternative Modellierungen der Zeit und des Historischen? Und welche praktischen Konsequenzen haben diese Alternativen für die Geschichtsschreibung?
Die Schwierigkeiten fangen schon damit an, dass ausgerechnet im Rahmen historischer Bemühungen die Zeit als Kategorie keinen besonders prominenten Platz einnimmt ( Alte Zeiten, Neue Zeiten ). Auch wenn seit etwa 2010 Bewegung in die Diskussion gekommen zu sein scheint,[14] nimmt es doch immer noch Wunder, dass Zeit in der internationalen Geschichtswissenschaft eher als neutraler Rahmen des historischen Geschehens denn als Problem und wichtiger Faktor eben dieses Geschehens wahrgenommen wird. Der Weg zu einer Zeiten-Geschichte stellt sich daher immer noch als eher schmaler Trampelpfad dar, obgleich er doch zahlreiche Aussichten verspricht, um der historischen Arbeit eine andere Bedeutung und Relevanz zu verleihen – insbesondere über die selbstgenügsamen Grenzen der Geschichtswissenschaft hinaus.
Das offenbart nicht zuletzt eine auch alltäglich zu erfahrende Vielzeitigkeit ( Das Jetzt der Zeiten ). Menschen leben nicht nur in einer physikalischen oder biologischen oder durch Uhren und Kalender dominierten Zeit, sondern bilden beständig zahlreiche kulturelle Zeitformen aus, die ihnen schier unendlich vielfältige temporale Bezugnahmen erlauben.
Als ein Beispiel für die Möglichkeit von Verzeitung zeigt die Zeitrechnung dabei eine herausfordernde Janusgesichtigkeit. Uhren und Kalender besitzen mitsamt ihren konkreten Entstehungszusammenhängen und Ausbreitungswegen eine deutliche kulturelle Spezifik. Die weltweite Diffusion europäischer Zeitrechnungsmodelle macht das Verhaftetsein mit ihrem provinziellen Ursprungsort nur noch deutlicher. Diese globale Dominanz erweist aber auch, wie sich bestimmte Zeitvorstellungen verabsolutieren und zumindest in einem gewissen Rahmen einen quasi natürlichen Charakter gewinnen können – von dem man sich dann nur unter großen Mühen wieder befreien kann.
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