Alfred Schmidt - Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx

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Alfred Schmidts in viele Sprachen übersetzte Untersuchung gehört zu den wichtigsten und folgenreichsten theoretischen Quellen der
philosophischen Marx-Interpretation. Schmidt selbst bezeichnet seine Arbeit als den 'Versuch, die wechselseitige Durchdringung
von Natur und Gesellschaft, wie sie innerhalb der Natur als der beide Momente umfassenden Realität sich abspielt, in ihren Hauptaspekten darzustellen.' 1993 erweitert er seine Interpretation des Marx'schen Werks, die von dem geschichtsmaterialistisch unterbauten Begriff der Natur ausgeht, um die Dimension des 'ökologischen Materialismus'. Der Alfred Schmidt-Schüler Michael Jeske
gibt dieser letzten Fassung ein Nachwort bei, welches u.a. Aspekte der Wirkungsgeschichte dieser für den westlichen Marxismus der
Nachkriegszeit so bedeutenden Schrift beleuchtet.

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Der Marxsche Atheismus – ein im Grunde bereits »postatheistisches« Bewußtsein – wendet sich gegen jede Abwertung von Mensch und Natur66. Für den Idealismus ist Gott, für den mit dem Humanismus identischen Materialismus der Mensch das höchste Wesen. Im Gottesbegriff sieht Marx den abstraktesten Ausdruck von Herrschaft, stets verbunden mit einem dogmatisch vorgegebenen einheitlich-geistigen Gesamtsinn der Welt. Ist Gott, so kommt der revolutionäre Mensch als Hersteller zwar nicht eines Weltsinnes, aber doch eines sinnvollen gesellschaftlichen Ganzen, in dem jeder Einzelne sich aufgehoben und geehrt weiß, nicht mehr in Betracht. Prometheus ist für Marx nicht umsonst der vornehmste Heilige im philosophischen Kalender. Das menschliche Selbstbewußtsein, sagt er in seiner Dissertation, muß als »oberste Gottheit«67 anerkannt werden. Geht die Theorie von vornherein von dem historischen Vermittlungszusammenhang von Mensch und Natur in der gesellschaftlichen Produktion aus, so ist auch der Atheismus nicht länger eine bloß »weltanschauliche« Behauptung: »Der Atheismus, als Leugnung dieser Unwesentlichkeit (von Natur und Mensch, A. S.) hat keinen Sinn mehr, denn der Atheismus ist eine Negation Gottes, und setzt durch diese Negation das Dasein des Menschen; aber der Sozialismus als Sozialismus bedarf einer solchen Vermittlung nicht mehr; er beginnt von dem theoretisch und praktisch sinnlichen Bewußtsein des Menschen und der Natur als des Wesens.«68

Als wie problematisch auch immer der Materialismus in der Geschichte der Philosophie sich erwiesen haben mag, sofern er als umfassende Welterklärung auftrat, sein eigentliches Interesse besteht gerade bei seinen bedeutendsten Vertretern nicht primär in einer dogmatischen Sammlung metaphysischer Thesen. Wo er sich auf solche einläßt, haben sie eine ganz andere Akzentuierung als die ihnen entgegengesetzten idealistischer Herkunft. Aus der Ansicht, daß alles Materielle wirklich und alles Wirkliche materiell sei, gehen für den Materialisten unmittelbar keinerlei ethische Maximen hervor.

Äußerlich zwar an theologisch-metaphysische Fragestellungen, wie sie der Hegelschen Philosophie eigentümlich sind, gebunden, versteht sich auch der Marxsche Materialismus nicht in erster Linie als Antwort auf die bewegenden Fragen, die traditionellerweise der Metaphysik zugeschrieben werden. Darin den großen Enzyklopädisten verwandt, ist er in den letzten Fragen der Metaphysik so großzügig, wie er unerbittlich ist in bezug auf die Nöte, die aus der unmittelbaren Praxis der Menschen hervorgehen. In der »Deutschen Ideologie« gibt es einen Abschnitt von Moses Heß, in dem auf drastisch-aufklärerische Weise die Idealisten gekennzeichnet werden: »Alle Idealisten, die philosophischen wie die religiösen, die alten wie die modernen, glauben an Inspirationen, an Offenbarungen, an Heilande, an Wundermänner, und es hängt nur von der Stufe ihrer Bildung ab, ob dieser Glaube eine rohe, religiöse oder eine gebildete, philosophische Gestalt annimmt ...«69

Befaßte sich der Marxsche Materialismus mit abstrakten weltanschaulichen Bekundungen, wie sie heute vielfach in den östlichen Ländern noch üblich sind, so unterschiede er sich in nichts von jenem oben glossierten schlechten Idealismus. Nicht das Abstraktum der Materie, sondern das Konkretum der gesellschaftlichen Praxis ist der wahre Gegenstand und Ausgangspunkt materialistischer Theorie. Demgemäß erklärt Marx in seiner achten Feuerbachthese: »Das gesellschaftliche Leben ist wesentlich praktisch. Alle Mysterien, welche die Theorie zum Mystizismus verleiten, finden ihre rationelle Lösung in der menschlichen Praxis und im Begreifen dieser Praxis.«70

Statt um die Frage nach der spirituellen oder materiellen Natur der Seele, die selbst in ihrer materialistischen Beantwortung zu Zeiten eine idealistische, nämlich ablenkende Funktion in der Gesellschaft haben kann, kümmert sich der Marxsche Materialismus vorab um die Möglichkeit, Hunger und Elend auf der Welt abzuschaffen. Mit den ethischen Materialisten der Antike, deren Ansichten über die Lust selbst der Idealist Hegel nicht fernsteht, hat Marx ein eudämonistisches Moment gemeinsam. Sosehr zwar der Materialismus zunächst keine sittliche Haltung ist, nicht in der blinden Vergötzung grobsinnlicher Freuden besteht, sowenig reduziert er sich freilich auf der anderen Seite bloß auf eine Theorie oder Methode. »Es geht dem Materialisten nicht um die absolute Vernunft, sondern um das Glück – auch in seiner verpönten Gestalt: der Lust – und nicht so sehr um das sogenannte innere Glück, das sich gar zu oft mit dem äußeren Elend zufriedengibt, sondern um einen objektiven Zustand, in dem auch die verkümmerte Subjektivität zu ihrem Recht kommt.«71 Wenn daher Engels in seiner Feuerbachschrift72 über das angebliche »Philistervorurteil« höhnt, das den Materialismus nicht nur als Theorie versteht, sondern auch mit sinnlichen Genüssen in Verbindung bringt, so fragt es sich, was die ungeheueren und nicht nur theoretischen Anstrengungen der Menschen, über den Kapitalismus hinauszugelangen, für einen Wert haben sollen, wenn es nicht auch um die Lust, um die Herbeiführung sinnlichen Glücks dabei gehen soll. In der Engelsschen Formulierung steckt etwas von jenem asketischen Zug, den Heine schon früh an der sozialistischen Bewegung wahrnahm und der später zu einer der Ursachen menschenfeindlicher Praxis werden sollte. Wer schon nichts Rechtes zu beißen hat, soll wenigstens nicht ohne »wissenschaftliche Weltanschauung« sein.

Die theoretische Anstrengung, die darauf abzielt, daß kein Mensch auf der Welt mehr materielle und intellektuelle Not leidet, bedarf keiner metaphysischen »Letztbegründung«. Der kritische Materialismus verschmäht es, darin die Tradition bloßen Philosophierens fortzusetzen, daß er »Welträtseln« nachspürt oder sich im Stil neuerer Ontologie unentwegt radikal in Frage stellt. Seine gedankliche Konstruktion ist die endlicher Menschen und erwächst aus bestimmten geschichtlichen Aufgaben der Gesellschaft. Er will den Menschen aus dem selbstgeschmiedeten Käfig undurchschauter ökonomischer Determination heraushelfen. Wenn die materialistische Theorie die gesellschaftlichen Voraussetzungen noch der zartesten Kulturgebilde herausarbeitet, so ist sie nichts weniger als die positive »Weltanschauung«, die heute im Osten aus ihr gemacht wird. Im Grunde ist sie ein einziges kritisches Urteil über die seitherige Geschichte, in der die Menschen sich zu Objekten ihrer blind mechanisch ablaufenden ökonomischen Dynamik haben herabwürdigen lassen. Ernst Bloch sagt daher mit Recht, »daß es bisher noch kein menschliches Leben gegeben hat, sondern immer nur ein wirtschaftliches, das die Menschen umtrieb und falsch machte, zu Sklaven, aber auch zu Ausbeutern«73. Ökonomie wird von der Theorie so scharf pointiert wie von der gesellschaftlichen Wirklichkeit selber. Sie ist jedoch sowenig wie das Proletariat ein metaphysisches Erklärungsprinzip für Marx. Von ihrer alles beherrschenden soll sie wieder zur dienenden Rolle zurückgebracht werden. Das »Materialistische« der Marxschen Theorie ist gerade kein Bekenntnis zum heillosen Primat der Ökonomie, dieser menschenfeindlichen, von der Wirklichkeit vollzogenen Abstraktion. Jene ist vielmehr der Versuch, endlich das Augenmerk der Menschen auf die gespenstische Eigenlogik ihrer Verhältnisse zu richten, auf diese Pseudophysis, die sie zu Waren macht und zugleich die Ideologie mitliefert, sie seien bereits mündige Subjekte.

Horkheimer kennzeichnet die Anarchie der kapitalistischen Produktion folgendermaßen: »Der Prozeß vollzieht sich nicht unter der Kontrolle eines bewußten Willens, sondern als Naturvorgang. Das Leben der Allgemeinheit ergibt sich blind, zufällig und schlecht aus der chaotischen Betriebsamkeit der Individuen, der Industrien und Staaten.«74

Indem die kapitalistische Gesellschaft von ihrem eigenen Lebensprozeß beherrscht wird, nimmt ihre Rationalität einen irrationalen, mythisch-schicksalhaften Charakter an, worauf Thalheimer aufmerksam macht: »So steht die kapitalistische Gesellschaft ihrer eigenen Wirtschaft gegenüber nicht anders, als der australische Wilde dem Blitz, dem Donner, dem Regen gegenübersteht.«75

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