1 ...6 7 8 10 11 12 ...28 Inzwischen wurde der Preis an Tom ausgeliefert mit so viel Pomp, als der Vikar nur irgend bei der Gelegenheit anbringen konnte. Der volle richtige Schwung aber schien doch dabei zu fehlen; ihm sagte der Instinkt, dass hier ein Geheimnis verborgen liege, welches das Licht nicht vertrage, ja es scheuen müsse. Es war einfach ein Ding der Unmöglichkeit, dass dieser Junge zweitausend Körner der Schriftweisheit in die Scheunen seines Geistes eingeheimst haben sollte, dieser Junge, dessen Fähigkeiten nicht hinreichend schienen, sich auch nur ein Dutzend solch köstlicher Früchte zu eigen zu machen, Anny Lorenz war stolz und glücklich und bemühte sich, es Vom in ihren Augen lesen zu lassen, der aber wollte nicht hersehen. Sie verwunderte und grämte sich darüber; dann fasste sie Verdacht und passte auf; ein verstohlener Blick, den sie auffing, sagte ihr Welten und brach ihr armes Herz. Sie war eifersüchtig, zornig, Tränen kamen, sie hasste alle Welt, Tom aber zu allermeist, in ihrem Herzen.
Tom wurde dem Kreisrichter vorgestellt, aber die Junge schien ihm wie gelähmt, sein Atem stockte, sein Herz klopfte zum Zerspringen, teils wegen der furchterregenden Größe des gewaltigen Mannes, hauptsächlich aber, weil er ihr Vater war. Er wäre gerne vor ihm niedergesunken, wenn’s nur dunkel gewesen wäre. Der große Mann legte die Hand auf Toms Haupt, nannte ihn einen tüchtigen, kleinen Burschen und fragte ihn, wie er heisse. Der Junge stammelte, stotterte und stiess endlich hervor:
»Tom.«
»Nun, doch nicht nur Tom, sondern –«
»Thomas.«
»So ist’s recht, ich dachte mir wohl, es gehöre noch etwas dazu. Du hast aber doch wohl noch einen anderen Namen, denke ich, und den wirst du mir doch auch sagen, nicht?«
»Nenne dem Herrn deinen vollen Namen, Thomas,« mahnte der Vikar, »und sage auch ›mein Herr‹, oder ›Herr Kreisrichter‹, du musst doch wissen, was sich schickt!«
»Thomas Sawyer – Herr Kreisrichter!«
»So, so ist’s recht, das nenn’ ich einen guten Jungen. Prächtiger Bursche! Wirklich prächtiger Kerl! Zweitausend Verse ist viel, – sehr viel! Aber, mein Kleiner, du wirst es gewiss nie bereuen, dass du dir so viel Mühe drum gegeben. Wissen ist mehr wert, als alles in der Welt, lernen und etwas wissen macht die großen und die guten Männer im Leben. Auch du wirst wohl einmal ein guter, vielleicht ein großer Mann, Thomas, und dann wirst du auf die Tage deiner Kindheit zurücksehen und sagen: das alles verdanke ich den unbezahlbaren Wohltaten, die ich durch die Sonntagsschule genossen, verdanke es meinen guten Lehrern, die mich zum Lernen anhielten, dem Herrn Vikar, der mich anfeuerte, mich leitete, mir die schöne Bibel schenkte, eine wundervolle, sein gebundene Bibel, die ich behalten durfte und ganz für mich allein besitzen, – alles, alles verdanke ich meiner guten, ausgezeichneten Erziehung. So wirst du sprechen, Thomas, und du ließest dir dann für kein Geld der Welt diese zweitausend Verse abkaufen, – für kein Geld der Welt, niemals! Und jetzt wirst du gewiss dieser Dame und mir etwas mitteilen, was du weisst, was du gelernt hast, nicht wahr? Denn sieh, wir sind stolz auf kleine Jungen, die etwas wissen. Ohne Zweifel kannst du uns doch die Namen der Jünger des Herrn sagen? Du kennst sie gewiss alle zwölf. Sag’ uns einmal, wer waren die zwei ersten, die ihm nachfolgten?«
Tom hatte währenddessen immerzu an einem Knopf seiner Jacke herumgedreht und möglichst dumm und einfältig dazu ausgesehen. Jetzt wurde er glühend rot und bohrte die Augen beinahe in den Boden. Dem Vikar sank das Herz in die Stiefel, Er wusste, dass der Junge unmöglich die allereinfachste Frage beantworten konnte, warum auch musste der Herr Kreislichter ihn fragen! Trotzdem fühlte er sich gedrungen, gleichsam ermunternd zu sagen:
»Antworte dem Herrn, Thomas, – fürchte dich doch nicht!«
Tom tat nichts als rot und röter werden.
»Mir wirst du’s doch sagen,« begann nun auch die Dame; »also die Namen der beiden ersten Jünger waren –«
» David und Goliath!«
Lasst uns den Schleier christlicher Barmherzigkeit über den Rest der Szene breiten. Auch was Tante Polly später zu der Bibel sagte und wie sie sich drüber freute, erwähnen wir besser nicht.
Kapitel 5: Eine Zahnoperation – Toms Freund – Ein Mittel gegen Warzen – Ein Strafgericht und Fortschritte in der Liebe
Sid
DER MONTAGMORGEN fand Tom sehr niedergeschlagen. Das war eigentlich an jedem Montagmorgen der Fall, denn damit begann ja eine neue Woche der Plage und des Leidens in der Schule. Gewöhnlich begrüßte er diesen Tag mit dem Wunsche, dass es lieber gar keine Feiertage geben möchte, denn das machte die nun wieder aufzunehmenden Ketten der Sklaverei nur um so drückender und fühlbarer.
Tom lag da und dachte nach. Plötzlich kam ihm die leuchtende Idee: wenn er nun krank wäre, dann brauchte er doch nicht zur Schule, Was war die einzige Möglichkeit, Er untersuchte und prüfte sein ganzes Körpersystem, Nirgends fand sich auch nur das geringste Schadhafte, Von neuem prüfte er. Diesmal meinte er leise Anzeichen von kolik-artigen Schmerzen zu verspüren, die er mit rasch aufkeimender Hoffnung liebend zu beobachten begann. Trotzdem verringerten sich dieselben aber bei näherer Betrachtung mehr und mehr und waren bald gänzlich verschwunden. Wieder überlegte Tom. Plötzlich entdeckte er etwas. Einer seiner oberen Zähne wackelte bedenklich, Er frohlockte. Schon begann er sich zu einem tiefen Stöhnen vorzubereiten, das er als Einleitung vorausschicken wollte, als ihm noch zur richtigen Zeit der Gedanke kam, dass, wenn er diesen Beweis von Krankheit ins Feld führe, die Tante ihm einfach den Zahn ausreissen würde, und das tat weh. Damit wollte er also nur im Notfall herausrücken und jetzt erst noch ein bisschen weiterherum denken. Eine Weile war alles Sinnen umsonst, dann erinnerte er sich, wie der Doktor einmal von einem Manne erzählt hatte, dem irgend etwas, Tom wusste nicht mehr genau was, etwas wie kalter Brand oder dergleichen, bei einem schlimmen Finger hinzugetreten sei, dass derselbe zwei bis drei Wochen damit zu tun gehabt und schließlich beinahe den Finger verloren habe. Zum Glück war Tom imstande, eine schlimme Zehe aufzuweisen, die er sich vor ein paar Tagen einmal irgendwo verletzt hatte. Die zog er nun eiligst unter der Decke vor, um sie aufs eingehendste zu prüfen. Damit ließ sich was machen! Leider kannte er die nötigen Symptome nicht, über die er sich beklagen musste, aber probieren wollte er’s doch auf jeden Fall und so begann er denn laut und tief aufzustöhnen.
Sid aber schlief ruhig und sorglos weiter.
Tom stöhnte lauter und meinte auf einmal wirklich Schmerz in der Zehe zu spüren.
Sid gab kein Zeichen.
Tom leuchte schon förmlich vor Anstrengung. Einen Moment sammelte er neue Kraft, hielt den Atem an und stiess dann eine ordentlich fortlaufende Tonleiter von wunderbar echtem Stöhnen aus.
Sid schnarchte weiter.
Nun wurde Tom ärgerlich. Er begann den hartnäckigen Schläfer zu rütteln und »Sid, Sid« zu rufen. Das wirkte besser und nun begann das Stöhnen von neuem. Sid gähnte, streckte sich, stützte sich dann mit einem letzten Schnarcher auf seinen Ellbogen und starrte nach Tom hin. Tom stöhnte weiter. Endlich ruft Sid:
»Tom, so hör’ doch, Tom!«
Keine Antwort.
»Nu, Tom, Tom, was ist los?« und er rüttelte ihn und starrte ihm voll Angst ins Gesicht.
Tom stöhnte:
»Ach, Sid, lass los, du tust mir weh!«
»Herr Gott, was gibt’s, Tom? Ich muss die Tante rufen.«
»Nein, lass sein. Es wird schon vorübergehen. Ruf’ niemand.«
Читать дальше