Nun trat der Herr Vikar, der die Sonntagsschule leitete, vor, ein kleines Testament zugeklappt in der Hand haltend, zwischen dessen Blättern sich der eine Zeigefinger barg, und bat um Aufmerksamkeit. Wenn ein Sonntagsschulvikar seine herkömmliche kleine Ansprache hält, so ist ihm ein Testament in der Hand so notwendig, wie das unvermeidliche Notenblatt dem Sänger, der das Podium betritt, um das Konzertpublikum mit einem Solo zu beglücken, – das Warum bleibt freilich ein Rätsel, denn weder Testament, noch Notenblatt wird von dem betreffenden Dulder je eines Blicks gewürdigt werden. Dieser Herr Vikar nun war eine etwas schmächtige, überschlanke Figur von etwa fünfundzwanzig Jahren, mit sandgelbem Bocksbart und sandgelben Haaren. Seine Miene war ernst, und feierlich war auch der Ton seiner Stimme, als er nach dem Muster der gewöhnlichen Sonntagsschulredner begann:
»Jetzt, Kinder, passt auf; setzt euch alle so gerade und ruhig, wie ihr könnt und hört mir einmal ein paar Minuten lang recht aufmerksam zu. So, jetzt ist’s recht! So müssen ‘s gute, kleine Knaben und Mädchen machen! Da sehe ich noch ein kleines Mädchen, das zum Fenster hinausguckt. Kleine, du denkst wohl, ich säße dort auf dem Baum und wolle den kleinen Vögelein da draussen etwas von unserem lieben Heiland erzählen, was? (Unterdrücktes Kichern.) Zuerst also möchte ich euch sagen, wie wohl es mir tut, so viele saubere, frohe kleine Gesichter an einem Ort, wie diesem, versammelt zu sehen, an dem sie lernen sollen, gut und brav zu sein und das Rechte zu tun.«
Und so weiter und so fort. Den Rest der Rede zu verzeichnen ist nicht nötig, sie hielt sich ganz an bekannte Muster, die jeder von uns schon tausendfältig gehört hat.
Das letzte Drittel der rednerischen Leistung wurde etwas gestört durch Wiederaufnahme der Püffe und Stöße und anderen Zeitvertreibs unter den schwarzen Schafen der kleinen Gemeinde. Ein Raunen und Flüstern begann; das sich mehr und mehr ausbreitete, ja selbst die Grundfesten solch unerschütterlicher Felsen wie Sid und Mary zu umspielen versuchte. Mit dem schlussandeutenden Sinken des Tons in des Redners Stimme ließ auch das Summen nach und der Schluss selbst wurde mit dem Ausbruch allgemeinsten, dankbaren Schweigens begrüßt.
Ein großer Teil der Unruhe war durch einen ebenso erstaunlichen als seltenen Zwischenfall verursacht worden – es waren Fremde gekommen! Der Bürgermeister erschien, begleitet von zwei Herren, einem alten, schwächlich aussehenden und einem jüngeren, stattlichen mit schon stark ergrauten Haaren. Voran ging eine Dame, offenbar die Frau des letzteren, die ein Mädchen an der Hand führte. Tom war bis dahin rastlos und unruhig gewesen, er hatte Gewissensbisse, und konnte Anny Lorenz nicht ansehen, deren Auge mit liebendem Blick das seine suchte. Als er nun aber die Kleine erscheinen sah, fühlte er sich wie trunken vor Wonne. Im nächsten Augenblick begann er mit Macht »sich zu zeigen«, – puffte seine Nachbarn, riss sie an den Haaren, schnitt Gesichter, kurz bediente sich aller jener Künste, die imstande sind, ein kleines Schulmädchenherz zu bezaubern und ihm Beifall abzugewinnen. Seiner Wonne wurde nur ein Dämpfer aufgesetzt durch den Gedanken an die Demütigung, welche er in jenes Engels Garten hatte erdulden müssen, aber die Erinnerung hieran war doch nur in den Sand verzeichnet, den schon jetzt die hochgehenden Wogen des Glücks, die seine Seele überfluteten, wegzuschwemmen begannen. Den Fremden wurde der beste Ehrenplatz angewiesen, und als des Vikars Rede zu Ende war, stellte sich heraus, wer sie seien. Der stattliche, ergraute Herr in mittleren Jahren entpuppte sich als eine große Persönlichkeit. Er war nichts mehr und nichts weniger als der oberste Richter des Kreises, das erhabenste Produkt der Schöpfung, das die Kinder je geschaut, und sie sannen drüber nach, aus welchem Stoff der wohl gemacht sein möge; halb sehnten sie sich danach, seine Donnerstimme zu vernehmen, und halb fürchteten sie sich davor. Er war aus Konstantinopel, zwölf Meilen flussabwärts, also ein weit gereister Mann, der die Welt kannte. Was der wohl alles schon gesehen hatte? Am Ende gar Washington und das »Weisse Haus«, das sich die Kinder wie eine blendende, leuchtende, flimmernde Masse von Eis und Schnee vorstellten, so weiss und so glänzend. Die durch solche Gedanken erweckte ehrfurchtsvolle Scheu prägte sich in dem atemlosen Schweigen, in den großen, runden, erstaunt drein starrenden Augen aus. Das also war der große, gewaltige Kreisrichter Thatcher, der Bruder ihres eigenen Bürgermeisters, der Onkel von Willy Thatcher, der da eben vortrat aus ihren Reihen und dem großen Mann die Hand bot, als sei das nichts. Hätte Willy gewusst, was das Flüstern bedeutete, das sich erhob, es hätte ihm wie Sphärenmusik in den Ohren geklungen!
»Sieh doch, Jim, Tom sieh doch! Er geht ja wahrhaftig hin und gibt ihm die Hand! Und der schüttelt sie. Weiss Gott, ich gab drei Steinkugeln drum, wenn ich der Willy wäre!«
Der Vikar begann sich nun »zu zeigen«, rannte hier hin, dort hin, erteilte Befehl, Lob, Tadel, wie’s gerade kam und wo er nur irgendwas anbringen konnte. Der Bücherausteiler »zeigte sich« in übermäßigem Wichtigtun und Amtseifer, indem er mit den Armen voll Bücher hin und her rannte. Die jungen Damen, welche die verschiedenen Klassen unterrichteten, wollten gleichfalls nicht zurückbleiben, süß lächelnd neigten sie sich über kleine Schülerinnen, die sie kurz zuvor gescholten, hoben lieblich drohende Fingerlein gegen schlimme, kleine Jungen und streichelten andere zärtlich und milde. Die jungen Herren, welche als Lehrer wirkten, »zeigten sich« in kleinen, ernsten Strafreden, die sie ihren betreffenden Klassen hielten, und anderen ähnlichen Beweisen ihrer Autorität. Dabei hatten fast alle jugendlichen Lehrer beiderlei Geschlechts ganz erstaunlich viel mit Bücherwechseln zu tun in der Nähe der Kanzel, irrten sich erstaunlich oft in dem, was sie holten, mussten wieder und wieder gehen, zwei-, dreimal und schienen sich gewaltig drüber zu ärgern. Auch die kleinen Mädchen »zeigten sich« auf die verschiedenste Weise und die kleinen Jungen »zeigten sich« in ihrer Art, indem sie sich heimlich schubsten und die Luft mit emporgeschleuderten Papierpfropfen erfüllten. Und über dem allem thronte majestätisch der große Mann, ließ die Sonne seines Lächelns erstrahlen und wärmte sich an seiner eigenen Größe, denn er selbst, – er »zeigte sich« erst recht. Eines nur fehlte, um des Herrn Vikars Glück vollständig zu machen in dieser erhabenen Stunde, und das war die Möglichkeit der Erteilung eines Bibelpreises. Einige Schüler konnten ein paar gelbe Zettel aufweisen, keiner aber hatte die genügende Zahl, wie er sich bei einem Umfragen unter den ersten »Gestirnen« leider überzeugen musste.
Da, im letzten Moment, als er schon jede Hoffnung fahren ließ, trat Tom Sawyer vor mit neun gelben, neun roten und zehn blauen Zetteln, – trat vor und verlangte eine Bibel! Das war ein Blitzschlag aus heiterem Himmel! Der Herr Vikar hatte auf ein solches Ansinnen aus dieser Himmelsrichtung jede Hoffnung aufgegeben gehabt, für die nächsten zwanzig Jahre mindestens. Aber die unglaubliche Tatsache ließ sich nicht wegleugnen, – hier stand Tom und da waren die Zettel und sie stimmten aufs Haar. Tom wurde also nach dem Ehrenplatze geleitet zu dem Kreisrichter und den anderen Auserlesenen und die erstaunliche Tatsache allen kund und zu wissen getan. Das wirkte nun förmlich versteinernd, war die ausserordentlichste Begebenheit des Jahrzehnts, und so nachhaltig und tief war der Eindruck derselben, dass er den neuen Helden noch beinahe über den alten erhob und die Schule nun zwei Wunder statt des einen zu bestaunen hatte. Die Jungen verzehrten sich in Neid, zumeist aber diejenigen, die sich nun zu spät klarmachten, dass sie selbst zu diesem verhassten Ruhme beigetragen, indem sie ihre Zettel an Tom verhandelten für die Reichtümer, die er durch zeitweilige Ablassung seiner Tünchungsprivilegien aufgerafft. Sie verachteten und verdammten sich selbst als überlistete Opfer eines schwarzen Betrügers, einer kriechenden, verräterischen Schlange.
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