»Thomas Sawyer!«
Als Tom diesen seinen Namen in unverkürzter Schönheit an sein Ohr schlagen hörte, wusste er, dass es nichts Gutes bedeute.
»Herr Lehrer!«
»Komm einmal hierher zu mir. Warum bist du wie gewöhnlich wieder zu spät dran?«
Eben wollte Tom irgendeine kleine Notlüge zu Hilfe nehmen, als er zwei lange, blonde Schwänze gewahrte, die an einem Rücken niederbaumelten, den er sofort mit dem elektrischen Instinkt der Liebe erkannte. Und neben jenem Rücken war der einzige leere Platz, bei den Mädchen drüben. Schnell gefasst sagte er daher:
»Ich musste noch etwas mit Huckleberry Finn verabreden!«
Dem Lehrer stand der Atem still, hilflos, ungewiss starrte er den kecken Sünder an. Das Summen der Lernenden verstummte, die Kinder trauten ihren Ohren nicht ob dieser offenen Sprache, dachten, Tom müsse verrückt geworden sein. Endlich, nach atemloser Pause, fand der Lehrer Worte:
»Was – was hast du gesagt?«
»Musste noch etwas mit Huckleberry Finn verabreden,« wiederholte Tom sorglos.
Ein Missverständnis war hier nicht möglich.
»Thomas Sawyer, auf dieses ganz ausserordentlich erstaunliche Bekenntnis kann nur die Rute antworten, Jacke herunter!«
Und nun tanzte des Lehrers Rute auf Toms Rücken, bis Hand und Arm fast lahm waren und die Rute sich in Wohlgefallen auflöste. Dann folgte der Befehl:
»Jetzt gehst du und setzest dich zur Strafe zu den Mädchen! Und lass dir das als Warnung dienen! Marsch!«
Das Kichern, welches nun das Zimmer durchlief, schien den Jungen sehr verlegen zu machen, in Wahrheit war es aber nur das Bewusstsein, erreicht zu haben, wonach er gestrebt, nämlich sich seiner Gottheit nahen zu dürfen. Standhaft wie ein Märtyrer, hatte er die Prügel ertragen, die gleichsam die dunkle Pforte bildeten, durch die er nun zu seinem Paradiese eingehen sollte. Vorsichtig ließ er sich ganz am äussersten Ende der Bank nieder. Mit einem verächtlichen Zurückwerfen des Kopfes rückte das Mädchen soweit als möglich von ihm weg. Das Flüstern, Köpfe zusammenstecken, Kichern und das bedeutungsvolle Anstarren des armen Sünders dauerte noch eine Weile fort, Tom aber schien keine Notiz davon zu nehmen. Still saß er da, hatte die Arme über den Tisch gelegt und sah mit großer Aufmerksamkeit in sein geöffnetes Buch. Allmählich hörte er auf, der Gegenstand der allgemeinen Beachtung und Heiterkeit zu sein, und wieder füllte das gewöhnliche Summen der Schule die sommerlich stille Luft. Jetzt begann Tom verstohlene Blicke nach seiner Göttin zu werfen. Sie bemerkte es, rümpfte das Näschen und wandte eine volle Minute lang den Kopf ab. Als sie verstohlen wieder nach ihrem Banknachbar hinblinzelte, lag ein Pfirsich vor ihr. Sie stiess ihn weg, Tom legte ihn sorgsam wieder vor sie; wieder stiess sie ihn fort, aber schon mit weniger Heftigkeit. Geduldig schob Tom ihn zurück, da ließ sie ihn liegen. Jetzt kritzelte Tom auf seine Tafel: »Bitte, behalt ihn – ich habe noch mehr.« Sie las die Worte, gab aber kein Zeichen von sich, weder zustimmend, noch verneinend. Jetzt begann der Junge etwas auf seine Tafel zu zeichnen, das er mit der linken Hand vor ihren Blicken barg. Eine Weile lang schien sie sich gar nicht darum zu kümmern, bald aber begann sich menschliche Neugier in ihr zu regen, die sich in allerlei kaum bemerkbaren Zeichen kundgab, Tom zeichnete weiter, anscheinend ganz in sein Werk versunken. Das Mädchen suchte auf unverfängliche Art sich einen Blick auf die Zeichnung zu verschaffen, der Junge aber verriet mit keiner Miene, dass er dies bemerkte. Endlich gab sie nach und flüsterte zögernd:
»Du, lass mich doch mal sehen!«
Tom enthüllte nun das traurige Zerrbild eines Hauses mit zwei windschiefen Giebeln, aus dessen Schornstein ein korkzieherartiges Rauchwölkchen ausschwebte. Jetzt war des Mädchens ganzes Interesse wach, und alles darüber vergessend, folgte sie mit Eifer der Vollendung des Meisterwerks. Als es fertig war, bestaunte sie es einen Moment und flüsterte dann: »Wundervoll – jetzt noch ‘nen Mann!«
Der Künstler stellte einen Mann in den Vordergrund, lang wie ein Mastbaum; mit einem Schritt hätte er über das Haus wegsteigen können. Die Zuschauerin aber war nicht kritisch, ihr gefiel das Ungetüm und sie wisperte:
»Der Mann ist prächtig – nun mach’ mich, wie ich daherkomme!«
Tom malte eine Art Achter mit einem kreisrunden Vollmond oben und vier dünnen Streifen als Arme und Beine. Die sich weit aufspreizenden Finger bedachte er mit einem ungeheuren Fächer. Das Original des Gemäldes fühlte sich geschmeichelt und meinte:
»Nein, wie nett – wenn ich doch zeichnen könnte!«
»Das ist leicht,« flüsterte Tom, »ich will dich’s lehren!«
»O, willst du? Wann?«
»Am Mittag. Gehst du zum Essen heim?«
»Wenn du bleibst, bleib ich auch.«
»Gut, das ist also abgemacht. Wie heisst du?«
»Becky Thatcher. Und du? Ach, ich weiss, Thomas Sawyer.«
»So heiss ich nur, wenn ich Schelte oder Prügel krieg, sonst heiss ich Tom. Du rufst mich Tom, gelt?«
»Ja.«
Jetzt kritzelt Tom was auf die Tafel, mit der linken Hand das Geschriebene zuhaltend. Diesmal wollte sie’s gleich sehen. Tom sagte:
»O, ‘s ist nichts.«
»Doch, doch.«
»Nein, ‘s ist nichts, es liegt dir gar nichts dran, ob du’s siehst.«
»Doch, nein wirklich, bitte, lass mich sehen.«
»Du wirst’s weiter sagen.«
»Nein, nein und dreimal nein, gewiss und wahrhaftig nicht.«
»Wirst du’s aber auch keinem Menschen sagen, solang du lebst?«
»Nie im Leben, niemand! Nun zeig aber auch.«
»Ach, dir liegt ja doch nichts dran!«
»Jetzt, wenn du so bist, Tom, da muss ich’s sehen –« und sie legte ihre kleine Hand auf die seine, worauf sich ein kleiner Kampf entspann, Tom schien im Ernst widerstreben zu wollen, zog aber seine Hand allmählich doch so weit zurück, dass die Worte sichtbar wurden: »Ich liebe dich.«
»O, du Abscheulicher!« Und sie gab ihm einen tüchtigen Klaps auf die Hand, wurde aber rot und schien gar nicht ungehalten.
Im selben Moment fühlte der Junge einen schicksalsschweren Griff an seinem Ohr, dazu einen unwiderstehlich nach oben ziehenden Drang, und ehe er wusste wie, befand er sich an seinem eigenen Platz, unter dem Feuer gewaltiger Lachsalven der ganzen Schule. Unerbittlich, wie das Schicksal, starrte der Lehrer noch während einiger schrecklicher Momente auf ihn nieder, begab sich aber dann schließlich feierlich zurück nach seinem Thron, ohne ein Wort zu sagen. Und obgleich Toms Ohr brannte, triumphierte sein Herz.
Als der Sturm in der Schule sich wieder gelegt hatte, machte Tom den ernsten Versuch, zu lernen, aber der Sturm in seinem Innern war zu gewaltig. Jetzt sollte er lesen, die Reihe war an ihm, er brachte aber vor Stammeln und Stottern keinen Satz zusammen; dann kam die Geographiestunde, Bei Tom wurden Seen zu Bergen, Berge zu Flüssen und Flüsse zu Inseln, bis das Chaos wieder über die Welt hereingebrochen zu sein schien. Beim Diktatschreiben, in dem er sonst einer der Besten war, stolperte er über die kinderleichtesten Wörter, hatte in einem Diktat von zehn Linien fünfzig Fehler und musste die bleierne Verdienstmedaille, die er bis dahin für diese seine erste und einzige Kunst mit soviel Stolz getragen, ohne alle Gnade einer würdigeren Brust überliefern.
Kapitel 6: Wanzendressur und Liebeserklärungen
JE EIFRIGER TOM sich bemühte, seine Gedanken fest auf das Buch zu heften, um so rastloser schweiften sie rings in der Weite herum. So gab er es denn zuletzt mit einem Seufzer und einem Gähnen auf. Ihm schien die erlösende Mittagsstunde heute niemals schlagen zu wollen. Die Luft draussen war vollständig regungslos, nicht der kleinste Hauch belebte die Stille. Es war der schläfrigste aller schläfrigen Tage. Das eintönige Gemurmel der fünfundzwanzig eifrig studierenden Schüler umspann die Seele mit demselben einschläfernden Zauber, der in dem Gesumm der Bienen liegt. Hoch oben am blauen Sommerhimmel schwebten zwei Vögel auf trägen Schwingen, sonst war draussen kein lebendes Wesen zu erblicken, ausser einigen Kühen, welche schliefen.
Читать дальше