Es war gut, in Elisabeth einen Menschen zu haben, der mich verstand. Ich brauchte jemanden zum Reden, zum Zuhören, zum Dasein, zum In-den-Arm-Nehmen. Sie war für mich die verwandte Seele, die ahnen konnte, wie mir zumute war. War ich doch durch diese uneheliche Schwangerschaft ziemlich ins seelische Ungleichgewicht gefallen und geriet in Gefahr, ins gesellschaftliche Abseits zu rutschen und verstoßen zu werden. Elisabeth, die jahrzehntelang damit gelebt hatte, innerhalb der Ehe nicht schwanger zu werden, konnte meine Situation gut verstehen. War doch eine kinderlose Ehe damals ebenso verpönt wie ein uneheliches Kind. Für eine fromme und gläubige Frau, die so lange kinderlos geblieben war, war die öffentliche Meinung eine große Belastung. Wie oft hatte Elisabeth sich gefragt: „Wozu das alles? Wieso erhört Gott meine Gebete nicht? Wieso muss ich damit leben, dass die Leute hinter meinem Rücken tuscheln und dass andere Frauen auf mich herabsehen?“ Und dann bekam ich die völlig unerwartete Antwort Gottes: „Auch Elisabeth, deine Verwandte, hat noch in ihrem Alter einen Sohn empfangen; obwohl sie als unfruchtbar galt, ist sie jetzt schon im sechsten Monat. Denn für Gott ist nichts unmöglich.“ (Lk1,36-37).
Für Elisabeth hörten die Zweifel und Ängste mit der fortgeschrittenen Schwangerschaft auf. Für mich sollten sie erst beginnen. Als mein Verlobter Josef merkte, dass ich ohne sein Zutun schwanger geworden war, war er völlig durcheinander. Und er dachte daran, mich in aller Stille zu verlassen. Bis der Engel ihm klar machte, dass Gott der Vater dieses Kindes war.
Jetzt begleitete mich Elisabeth durch die Fragen und Ängste meiner Schwangerschaft.
Du berichtest, dass Elisabeth bei eurer Begegnung voller Freude ausrufen hat: „Gesegnet bist du unter den Frauen – und gesegnet ist die Frucht deines Leibes!“ Nun möchte ich dich fragen: Aus welchem Grund warst du zu beglückwünschen, wenn dir doch dein Kind ganz viel Kummer bereiten würde? Musstest du doch später den grausamen Tod deines Sohnes am Kreuz miterleben und miterleiden.
Elisabeth beglückwünschte mich, weil in meinem Schoß das Abenteuer der Menschwerdung Gottes seinen Anfang nahm. Auch wenn ich noch nicht wusste, auf was ich mich einließ, wie oft ich die Sonne zusammen mit meinem Kind scheinen sehen würde oder wie oft ich heftige Stürme würde ertragen müssen. Natürlich habe ich schon geahnt, dass mein Leben und das meines Sohnes kein Spaziergang sein würde. Gab mir doch der Heilige Geist während meines Magnifikats die starken Worte ein: „Er vollbringt mit seinem Arm machtvolle Taten: Er zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind; er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen.“ (Lk1,51-52). Da wurde mir schon klar, dass dies nicht ohne Gegengewalt, Widerstand und Verfolgung abgehen würde.
Damit weitet sich der Inhalt deines Liedes als eine prophetische Weissagung der Befreiung auf das politische und soziale Schicksal der Menschheit. Der revolutionäre Tonfall ist nicht zu überhören. Mit diesem deinem Lobeslied auf deinen Schöpfer wirst du heute für uns, in einer Zeit, in der Unterdrückung und Elend groß sind, zu einer Hoffnungsträgerin für eine bessere Welt.
Im Magnifikat besingt der Geist Gottes in mir eine totale Veränderung der Zustände und Verhältnisse. Den Armen und Ohnmächtigen soll geholfen werden, und zwar auf Kosten der Reichen und Mächtigen. Der Allmächtige bewirkt eine Revolution. Niemand anderes. Erst im Nachhinein verstand ich, dass mein Sohn mit seinem Zerbrechen am Kreuz die Heilung und Rettung der Menschheit von allem Bösen, von Sünde und Tod bewirkt hat, dass er das Tor zum erfüllten Leben hier und in der Ewigkeit aufgestoßen hat.
Du hast ja die Seligpreisung von Elisabeth noch ergänzt, indem du spontan ausriefst: „Denn auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut. Siehe, von nun an preisen mich selig alle Geschlechter. Denn der Mächtige hat Großes an mir getan und sein Name ist heilig.“ (Lk 1,48-49). Die Erhöhung der erniedrigten Magd war ja schon der Beginn einer Befreiung durch Gott selbst.
Ich bin durch meinen Sohn so reich gesegnet worden, dass mein Mund voller Dankbarkeit und Freude in diesem Lobgesang überfloss: „Meine Seele preist die Größe des Herrn, und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter.” (Lk1,46-48).
Gemeinsam mit dir möchten auch wir hoffen, dass Gott uns in unserer Niedrigkeit sieht und zu uns kommt. So dass auch wir, ähnlich wie du, mit seinem Geist der Liebe und Demut schwanger gehen dürfen in dem Wissen, dass sein großer Heilswille für eine menschengerechtere Welt immer nur durch selbstlose Menschen geschieht, die sich wie du für den Geist Gottes öffnen.
Auch ihr dürft zu Hoffnungsträgern werden. Glaub es mir! Hoffnung lässt sich immer wieder neu verschenken. Gönnt der gestressten Verkäuferin an der Supermarktkasse ein Wort der Aufmunterung. Nehmt euch endlich die Zeit für einen längst fälligen Besuch. Umarmt, tröstet, lächelt, übt euch im Zuhören. Das Maß an Hoffnung, das ihr einander zu schenken vermögt, ist nie ausgeschöpft!
Mit zwei Koffern und einer Plastiktüte zu den traumatisierten Menschen im Nahen Osten
„Ich bin ein Vogel ohne Flügel, denn die Christen sind meine Flügel. Ohne sie kann ich weder nach Afrika, Indien oder in den Nahen Osten fliegen.“ Das sind die Worte von Schwester Hatune Dogan. Wer ist diese Nonne, die von vielen als die „Mutter Theresa der vertriebenen Menschen im Vorderen Orient“ bezeichnet wird und das deutsche Bundesverdienstkreuz erhalten hat?
Hatune Dogan wurde am 02. April 1970 in Zaz, im Tur-Abdin im Süd-Osten der Türkei geboren. Ihre Muttersprache ist Aramäisch, die Sprache Jesu. Jahrhundertelang war diese Region überwiegend christlich. Dann eroberten islamische Herrscher das Gebiet. Glaubenskriege und Vertreibungen prägen seither seine Geschichte. Hatune hat Verfolgung am eigenen Leib erfahren. Mit fünfzehn flüchtete sie mit ihren Eltern und Geschwistern nach Istanbul. Ihr Vater hatte mehrere Diebe auf seinem Weinberg erwischt, die daraufhin von der Dorfgemeinschaft verspottet wurden. Deshalb wollten sie sich an ihm rächen und ihn umbringen. Überstürzt mussten die Dogans ihre Heimat verlassen. Schließlich landeten sie in Deutschland, wo ihnen Asyl gewährt wurde und sie die deutsche Staatsbürgerschaft erhielten.
1988 trat Hatune als syrisch-orthodoxe Christin in den Orden von St. Ephraim der Syrer ein. Nach ihrer Ausbildung an der Katholischen Fachhochschule Mainz war sie als Gemeindereferentin in syrisch-orthodoxen Gemeinden in der Umgebung von Paderborn tätig. Ab 1992 arbeitete sie an einem deutsch-aramäischen Wörterbuch, das 1997 veröffentlicht wurde.
Seit 1999 lebt sie nach den Worten ihres Meisters: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ (Mt 25,40). Nach einer Reise nach Indien hat sie 2011 die Stiftung „Hatune – Helfende Hände für die Armen“ aufgebaut. Für Familien und Obdachlose errichtet diese Organisation jährlich etwa 500 Häuser. Dazu werden rund 500 Trinkwasserbrunnen pro Jahr gegraben. Mit ihren mobilen Kliniken und der Lepra-Hilfe bietet sie medizinische Versorgung für mehr als 25.000 Menschen. Etwa 800 Kinder bekommen eine Schulausbildung, 1.000 konnten eine Ausbildung abschließen. 300 Waisenkinder sind in Heimen untergebracht. Die Stiftung arbeitet nur mit ehrenamtlichen Helfern. Dadurch fallen keine Kosten für Verwaltung, Angestellte oder Büroräume an.
In besonderer Weise engagiert sich Schwester Hatune für die traumatisierten Flüchtlinge aus dem Nahen Osten, die von der Terrormiliz „Islamischer Staat“ vertrieben wurden. Zwei Koffer und eine Plastiktüte, mehr braucht sie nicht für ihre Reise nach Syrien und in den Irak. In dem großen Koffer bringt sie Kleidung für die Flüchtlinge mit. In dem kleineren Koffer steckt ihre Ausrüstung: Laptop, Kamera, Diktiergerät, Notizblöcke, ein Stethoskop. In der Plastiktüte hat sie eine zweite Schwesternkutte. „Das reicht für mich“, meint sie lächelnd.
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