Fischaugen, vorsichtig lauernd hinter großen, schweren Tränensäcken, die einem Bankdirektor Ehre gemacht hätten. Schütteres, schlecht gefärbtes, wie Taft changeant schillerndes Haupthaar auf einem massigen, anscheinend nur aus Fleisch bestehenden Kopf, der ohne Hals in einen ebensolchen Rumpf überzugehen schien.
Pizarrini hatte seinen beim Einnehmen der üblichen Vormittagsjause gefaßten Entschluß, die Sache mit den Weibern schleunigst nachzuholen, schon in der nächsten freien Stunde in die Tat umgesetzt, und so kam es, daß er zu einer ganz ungewöhnlichen Zeit in dem verrufenen Haus erschien: in der Mittagspause.
Die Alte, die ihm aufgemacht hatte, war denn auch geradewegs aus der Küche gekommen. Sie hatte eine weiße Schürze umgebunden, unter der ein Paar dicke, pantoffelbewehrte Füße hervorschauten. Sie blickte ihn aus ihren Fischaugen kurz an, und war es nun die ungewohnte Zeit oder vielleicht auch die Tatsache, daß er ihr sicher einen gänzlich anderen Eindruck als die üblichen Besucher machte, auf jeden Fall hielt sie ihn zunächst für einen Agenten und sagte, indem sie sich ihre dicken, nackten Arme mit der Schürze abwischte, kurz und abweisend: „Wir brauchen nichts.“
Er hatte ein eigentümliches, beklemmendes Gefühl im Magen, sah sie unverwandt an und gab ihr keine Antwort.
„Ach so“, sagte sie, ihr erstes Urteil revidierend, taxierte ihn noch einmal rasch mit geübtem Blick und schrie dann mit rauher Stimme einen langen, sich im Dunkel verlierenden Gang hinunter: „Tonschi, ein Gast ist da.“
Bald darauf kam in schwarzem Schwimmtrikot und roten Hausschuhen die von der Alten herbeigerufene Tonschi, eine vollschlanke, üppige Schwarze von etlichen dreißig Jahren, den Gang herauf.
Sie ging ganz nahe an ihn heran, beugte ihren Kopf vor und sagte, was ihn überaus befremdete, ganz einfach: „Burschi, komm!“
Die Wirtin sah ihnen mit einem ärgerlichen Kopfschütteln nach und murmelte etwas von einem fetten, geilen Engerling, der einem nicht einmal einen ruhigen Mittag gönne.
Er indessen folgte mit leisem Widerwillen der üppigen Tonschi in ihre nach abgestandener, ranziger Sinnlichkeit riechende Kammer.
Sie schloß die Tür hinter ihm zu und sagte: „Zuerst zahlen.“
Das erbitterte ihn, und um so mehr gereizt, als er noch nicht einmal zu Mittag gegessen hatte, antwortete er: „Natürlich, oder glauben Sie, ich wollte auf Kredit?“
Sie blieb davon ganz unberührt und sagte lediglich: „Zehn Kronen.“
Er legte ihr fünfzehn hin. Sie nickte zufrieden und sagte: „Dafür sollst du was Schönes haben.“
Dann zog sie sich ihr Trikot aus und legte sich auf die Couch.
Als er keine Anstalten machte, etwas Ähnliches zu tun – das beklemmende Gefühl in der Magengegend hatte sich inzwischen wieder eingestellt –, sagte sie abermals: „Burschi, komm!“
Er hätte am liebsten kehrtgemacht und wäre gegangen, hätte es wohl auch getan, wäre ihm nicht plötzlich eingefallen, daß er sie dadurch möglicherweise gefährlich kränken könnte, und das wollte er nun auch wieder nicht. Inzwischen war ihr natürlich sein ungewöhnliches Benehmen aufgefallen. Sie setzte sich auf und fragte: „Was ist denn los mit dir?“
„Nichts“, sagte er, „nichts. Ich glaube, ich … Sie dürfen nicht beleidigt sein, Sie haben wirklich eine gute Figur.“
„Quatsch keinen Blödsinn“, unterbrach sie ihn, und als fiele ihr etwas ein und als biete sie ihm etwas zu trinken an, „soll ich dich schlagen?“
„Wozu das?“ fragte er erstaunt.
„Mein Herr“, erwiderte sie bebend, ihre Geduld war zu Ende, „mein Herr, ich lasse mich von Ihnen nicht zum Narren halten. Verschwinden Sie!“ Und kühl, geschäftsmäßig, setzte sie hinzu: „Das Geld bekommen Sie natürlich nicht zurück.“
„Das verlange ich doch gar nicht. Ich will Sie auch nicht zum Narren halten. Ich habe nur, verstehen Sie doch, ich habe“, er suchte verzweifelt nach dem richtigen Wort, endlich fiel es ihm ein, „ich habe nur keine Lust, verstehen Sie, keine Lust.“
„Warum?“ fragte sie und blickte ihn vollkommen verständnislos an. „Warum sind Sie denn dann überhaupt hierhergekommen?“
Warum? Ja, warum war er hierhergekommen? Das war doch völlig klar, wie konnte sie ihn nur so was fragen? „Der Ordnung halber“, erwiderte er ohne zu zögern, lächelte die Erbleichende freundlich an, schloß die Tür auf und ging hinaus.
Mit gravitätischen Schritten stolzierte er durch den langen, dunklen Gang dem Ausgang zu. Dort verweilte er einen Augenblick, zündete sich eine Zigarette an, genoß die feine Wärme der winterlichen Mittagssonne, sah dem Rauch nach, versenkte sich einen weiteren Moment in den Anblick des blauen Himmels und spazierte dann gemächlich dem Speisehaus zu, in dem er seine Mahlzeiten einzunehmen pflegte.
Pizarrini ging nach dem Mittagessen sofort in das Geschäft zurück und versenkte sich mit in einem ihm sonst zu dieser Tageszeit nicht eigenen Eifer in seine Arbeit. Dies war aber nur ein Zeichen dafür, daß ihm das Erlebnis während der Mittagspause mehr zu schaffen machte, als er sich eingestehen wollte. Er stürzte sich mit einer wütenden, zur Ordnung entschlossenen Verbissenheit auf die Belege zu seiner Rechten und begann sie zu buchen. Pizarrini war Buchhalter aus innerer Berufung, und seine Lebensmaxime lautete: Ordnung halten. Man darf das nicht verwechseln: Ordnung und Ordnung-Halten sind zweierlei. Es gibt, um den Unterschied zwischen beiden auf kürzestem Weg deutlich zu machen, keine Ordnung schlechthin, sondern immer nur eine ganz bestimmte Ordnung, die man zur Lebensmaxime erheben kann, wohl aber gibt es das Ordnung-Halten schlechthin, mit dem man so was anstellen kann. Pizarrini also war für das Ordnung-Halten, und jenes „der Ordnung halber“, das er der ahnungslosen Tonschi zur Antwort gegeben hatte, war mehr als irgendeine leichthin gegebene Antwort. „Der Ordnung halber“, das war für Pizarrini lapidarer Ausdruck seiner ebenso lapidaren Weltanschauung vom Ordnung-Halten, die man in dem einen Satz zusammenfassen kann: Selbst Unordnung läßt sich in Ordnung halten.
Mit anderen Worten: Pizarrini war für die Ordnung des Ordnungs-Haltens. Er war Buchhalter und wußte, welch ein vorzügliches Werkzeug des Ordnung-Haltens die glorreiche Erfindung der Buchhaltung war.
Pizarrini war wie viele dicke Menschen Optimist. In dem manchmal turbulenten und nervösen Betrieb des Geschäftes, in dem er arbeitete, war er ein Fels unerschütterlicher Ruhe und Gelassenheit. Pizarrini wußte: Es gibt nichts, das sich nicht buchen ließe. Sogar ein Konkurs läßt sich buchen. Er hütete sich freilich, seinen Chef in schwierigen Tagen mit dieser Weisheit zu trösten, aber er kostete in fröhlicher Gelassenheit von ihr, wenn sich der Chef über schlechte Geschäfte ereiferte, als einem gar köstlichen Geheimnis, das ihn gegen derlei Verzweiflungen feite.
Nun aber saß er in stiller Wut an seinem Schreibtisch und buchte mit verbissener Beharrlichkeit zu einer Zeit, während der er sonst seinen alltäglichen Verdauungsspaziergang zu machen pflegte, Geschäftsfall auf Geschäftsfall, wie sie ihm die Belege zu seiner Rechten vorwiesen.
Nicht daß ihn der, wie er sich jetzt einzugestehen bereit war, etwas überstürzte Bordellbesuch in der Mittagspause aus seinem seelischen Gleichgewicht gebracht hätte, davon konnte keine Rede sein. Kronen 4,50 für ein halbes Kilo künstlichen Schnee, Dekoration SOLL, Kassa HABEN. Daß solche Besuche bisweilen ohne Ergebnis verlaufen, das wußte er, das hatte er in jenem dickleibigen wissenschaftlichen Buch gelesen, das er sich vor Jahren von einem Freund ausgeliehen hatte.
„Das Geschlechtsleben des Mannes in tiefenpsychologischer Sicht“ hatte es geheißen.
Kronen 84,10 Stromkosten, Strom SOLL, Kassa HABEN.
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